Otto Gorss - Biografie (Alfred Springer, 2008)

Lebensweg:

Otto Gross wurde am 17. März 1877 geboren. Sein Vater war Hans (auch Hanns) Gross (1847-1915), der als Professor der Kriminalistik als weltweit führende Autorität in seinem Bereich galt. Die Mutter Adele, geb. Raymann (1854-1942), stammte aus Retz. Sein Unterricht erfolgte hauptsächlich durch Privatlehrer und an Privatschulen, die Matura wurde aber am Gymnasium abgenommen.
Nach kurzem Versuch mit einem Studium der Zoologie an der Universität Graz studierte Gross in Graz, München und Strassburg Medizin. 1899 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert. Nachdem er als Assistenzarzt in den internen Abteilungen verschiedener Krankenhäuser (Frankfurt/M, Czernowitz, Kiel) gearbeitet hatte, unternahm er 1901mehrere Reisen als Schiffsarzt nach  Südamerika. Er begann Kokain, Opium und Morphium zu sich zu nehmen.
1901 und 1902 arbeitete er als psychiatrischer Volontär und Assistenzarzt in München und in Graz  (bei Anton). Es kam zu  einer ersten Entziehungskur an der  Burghölzli - Klinik in Zürich. Seine  ersten wissenschaftlichen Publikationen erschienen in   angesehenen Zeitschriften. Außerdem veröffentlichte er 1901 ein „Compendium der   Pharmako-Therapie für Polikliniker und junge Ärzte“ (seine Dissertation) im  Vogel –  Verlag in Leipzig. Als erstes seiner Hauptwerke erschien 1902, ebenfalls bei Vogel, seine Monographie:   „Die zerebrale Sekundärfunktion“.

1903 heiratete Gross Frieda Schloffer (1876-1950).  
1905 reichte er an der Universität Graz seine Habilitation ein. Er versuchte in diesem Jahr in der Naturheilanstalt auf dem Monte Verita in Ascona erneut eine Entwöhnung.
1906 wurde ihm dieLehrbefugnis als Privatdozent im Fach Psychopathologie an der Universität Graz zuerkannt. Während des Wintersemesters 1906/1907 hielt er eine Vorlesung „Über die Freud’sche Ideogenitätslehre“. Im September 1906 zogen Otto und Frieda Gross nach München, wo seit 1904 Emil Kraepelin die Psychiatrische Klinik leitete. Er trat in dieser Klinik eine Stelle als Assistenzarzt an. Auch in München blieb er der Psychoanalyse treu. Er hielt Seminare über die Freudsche Methode und führte analytische Behandlungen sowohl in der Kräpelinschen Klinik als auch im Cafe Stefanie ( der Münchner Variante des  „Cafe Grössenwahn“) durch. Gleichzeitig tauchte er in das Leben des  Künstlerviertels Schwabing ein, nahm Kontakt mit den Hauptvertretern der dortigen Boheme auf und führte teilweise mit ihnen Analysen durch. Über seine  Frau lernte er Else Jaffe, geb. von Richthofen, kennen, die Gattin des bekannten Nationalökonomen und späteren Finanzministers Edgar Jaffe und nimmt mit ihr eine Beziehung auf. Als deren Schwester Frieda Weekley, die später D. H. Lawrence heiratete, nach  München kam, ging er auch mit ihr ein Verhältnis ein.
1906 reiste er auch erneut nach  Ascona. Der Monte Verità war zu jener Zeit eine Werkstatt für Ideen, Philosophien, neue Lebensentwürfe und revolutionäre Perspektiven. Als Gründer der Lebensgemeinschaft am Monte Verita gilt Gusto Gräser, zu den Besuchern und (zumindest kurzfristigen) Siedlern zählten unter anderem: Lenin, Trotzki, Streseman, Chamberlain, Ex-Kronprinz Wilhelm, Erich Mühsam, die Gräfin Reventlow, Hermann Hesse, Rudolf Steiner, Stefan George, Emmy und Hugo Ball, Paul Klee, Isadora Duncan, Alexej Jawlensky, Baron von der Heydt, Billy Wilder, Friedrich Glauser, D. H. Lawrence, Thomas Mann, Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlenski. Auch Mediziner, Pädagogen und Gesundheitsreformatoren wie zum Beispiel Max Bircher-Benner, ein früher Vertreter des Bio-Gedankens, Erfinder des „Müslis“ und Herausgeber der „Wendekreis“-Bücher, in denen auch Wilhelm Stekel publizierte, fanden sich unter den Besuchern.
Gross kam in enge Beziehung zu den anarchistischen Kreisen am „Monte Verita“, vor allem zu Erich Mühsam und Johannes Nohl. Er  entwickelte nunmehr Ideen von der revolutionären Valenz der Psychoanalyse für eine sexuelle Revolution. Zur Verwirklichung seiner Ideen beteiligte er sich an der „Hochschule zur Befreiung der Menschheit“, die sich in einer Mühle im Wald von Ascona einquartierte und  zu einem anarchistischen Zentrum wurde. Die Bildhauerin Lotte Hattemer, die in der Gemeinschaft des Monte Verita lebt, beging Selbstmord mit einem Gift, das ihr Gross zur Verfügung gestellt hatte. Nach seiner eigenen Darstellung (Brief an Maximilian Harden, Februar 1914) handelte es sich dabei um bewusste Hilfe zum Selbstmord, um zu vermeiden, dass sich die junge Frau auf schreckliche Weise das Leben nehmen könnte.
1907 Geburt zweier Söhne. Im Jänner aus der Ehe mit Frieda, im Dezember aus der Beziehung  mit Else Jaffe.
Im September referierte Otto Gross auf dem Amsterdamer Kongreß für Neuro-Psychiatrie über seine Auffassung von der cerebralen Sekundärfunktion. Dabei  verteidigte er die Hysterielehre Freuds. Er begegnete in Amsterdam auch erstmals C. G. Jung, wo dieser, verschlüsselt,  seine Erfahrungen über den „Fall Sabine Spielrein“ vortrug.
In dieser Zeit begann sein wachsender persönlicher und gedanklicher Einfluss auf viele Schriftsteller der expressionistischen Generation. Karl Otten, Leonhard Frank, Franz Jung, J. R. Becher und Franz Werfel, eventuell auch Oskar Maria Graf können beispielhaft erwähnt werden.
Der Versuch eine Arbeit „Über psychologische Herrschaftsordnung. I. Der Psychologismus seit Nietzsche und Freud“ im Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik zu veröffentlichen zu veröffentlichen, scheiterte. Die Publikation wurde abgelehnt, wofür Max Weber Begründungen vorlegte. Der Text ist verschollen, den Titel kennen wir aus der Abschrift des Briefes von Max Weber durch Else Jaffé.
Ebenso ließ sich der gemeinsam mit Erich Mühsam entwickelte Plan, den Nachwuchs. Zeitschrift für psychologische Gesellschaftskritik zu gründen, nicht realisieren.

1908:  Am 26. und 27. April 1908 nahm dann Gross, eventuell über Vermittlung von Ernest Jones, am 1. Psychoanalytischen Kongress in Salzburg teil. Er wollte einen Vortrag über „culturelle Perspectiven“ halten. Nach einer späteren Darstellung von Gross (1913)  kritisierte Freud seine Sichtweise und vertrat ihm gegenüber den Standpunkt: „Wir sind Ärzte, und Ärzte müssen wir bleiben.“ Da die Kokainsucht Gross zu entgleiten drohte, erstellte Freud ein ärztliches Zeugnis und regte eine Behandlung am Burghölzli durch C. G. Jung an.
Aus einer Beziehung mit der Schweizer Schriftstellerin Regina Ullmann (1884-1961), die Patientin und Geliebte von Gross war, ging in diesem Jahr eine Tochter, Camilla,  hervor. Regina Ullmann freundete sich später mit Rainer Maria Rilke an.
1909: Am 10. Oktober veröffentlichte er ein Schreiben „Elterngewalt“  in der Zukunft Maximilian Hardens. Otto Gross setzte sich darin für die Freilassung einer seiner Patientinnen, Elisabeth Lang, ein, die zwangsweise auf Betreiben der Eltern in einer Klinik untergebracht worden war. Diese junge Frau zählte zum Bekanntenkreis des bekannten Sozialisten Gustav Landauer. In München wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Kurpfuscherei eröffnet. In dieses war der Ehemann von Käthe Kollwitz involviert.
1911: Am 3. März  tötete sich in Ascona seine Geliebte und Patientin Sophie Benz. Gross, der ihr Gift besorgt hatte, begab sich anschließend zur Behandlung in die Anstalt Mendrisio bei Casbaigno (Schweiz), von dort wurde er an die Wiener Anstalt „Am Steinhof“ ( heute „Otto Wagner Krankenhaus“- Spital) überwiesen, in der er  bis zum 21. Juni blieb. Aus dem Steinhof übersandte er Freud eine Schrift „In eigener Sache“, in der er forderte, dass C. G. Jung sich dazu bekennen müsse, ihm seine im Verlauf der Analyse geäußerten Ideen gestohlen zu haben. Dazu ist zu sagen, dass Jung tatsächlich aus den Schriften von Gross sowohl Anregungen für die Entwicklung seiner Typenlehre bezog, als er auch Material, das ee der Analyse von Gross entnahm, in seine Publikation „Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen“, einbaute.
Nach der Entlassung lebte er wieder in München und lernte Margot und Franz Jung kennen. Er entwickelte den Plan, eine „Schule für Anarchisten“ in Ascona zu gründen und teilte dem Schweizer Arzt und Anarchisten Fritz Brupbacher mit, dass er die  Herausgabe einer Zeitschrift für Probleme des Anarchismus plane.
1913 zog er nach Berlin wo er sich der Gruppe um den bedeutenden Zeitschriftenherausgeber Franz Pfemfert anschloß und in dessen „Aktion“ Beiträge zur Bedeutung und zum politischen Potential der Psychoanalyse veröffentlichte. Damit eröffnete er eine Diskussion über dieses Thema in der Expressionistischen Generation. Er nahm in dieser Zeit weitreichenden Einfluss auf Berlin Dada, insbesondere auf Raoul Hausmann und Hannah Höch
Am 9. November wurde er aufgrund einer Intervention seines Vaters als „gefährlicher Anarchist“ verhaftet und aus dem preußischen Staatsgebiet ausgewiesen. Ebenfalls Hans Gross stand dann hinter einer Internierung in der Privat-Irrenanstalt Tulln bei Wien. Daraufhin setzte eine internationale Pressekampagne für die Befreiung des Otto Gross ein. Die Medien dieser Kampagne waren die Zeitschrift „Revolution“, die in München erschien und die Berliner „Aktion“. Zu den Fürsprechern von Gross zählten in der von Simon Guttmann und Franz Jung herausgegebenen Sondernummer der „Revolution“ zum Fall Gross unter anderen Mühsam, Cendrars, Rubiner, poetische Beiträge steuerten zu dieser Ausgabe die bekanntesten Vertreter der expressionistischen Generation bei: J. R. Becher, Ernst Blass, Alfred Lichtenstein, Jacob van Hoddis, Rene Schickele, Peter Baum, Else Lasker-Schüler, Richard Hülsenbeck.
Am 9. Jänner 1914 wurde Otto Gross im gegen ihn verlaufenden Verfahren durch zwei Amtsärzte begutachtet und es wurde „Wahnsinn im Sinne des Gesetzes“ diagnostiziert. Er wurde als nicht fähig befunden, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen und daher dieEntmündigung empfohlen. In einem Schreiben an Hans Gross bestätigte Eugen Bleuler die Abnormität von Otto. Die Kuratel wurde vom Bezirksgericht Graz mit Genehmigung des k.k. Landesgerichts beschlossen und der Vater Hans Gross zum Kurator eingesetzt. Gross wurde darauf hin zunächst in Tulln interniert und dann in die Landesirrenanstalt Troppau in Schlesien verlegt. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass er eventuell von seinen Freunden gewaltsam befreit würde. Noch aus Tulln gelang es ihm, einen Protestbrief herauszuschmuggeln; dieser wurde Ende Februar in Maximilian Hardens Zukunft publiziert Er kämpfte gegen seine Entmündigung an, verfasste mehrere Gesuche um neuerliche Untersuchung und Begutachtung seines Geisteszustandes; dabei wurde er durch Maximilian Harden publizistisch unterstützt.  Schließlich wurde er als „genesen“ entlassen und arbeitete in der Folge als Anstaltsarzt.
In Bad Ischl wurde er von Wilhelm Stekel behandelt /analysiert. Stekel kannte Gross bereits aus der Zeit des Salzburger Kongresses und als Mitarbeiter für das „Zentralblatt für Psychoanalyse“.  Stekel bewertete das Zustandbild neu, hob die Diagnose „Dementia präcox“ auf und diagnostizierte Gross als Paraphilen, als sadistische Persönlichkeit mit reaktiv masochistischer Einstellung. Später veröffentlicht er den verschlüsselten Fall in seinem Band über „Sadismus und Masochismus“ unter dem Titel „Die Tragödie eines Analytikers“.
Während des Krankenhausaufenthaltes in Ischl lernte Gross Nina Kuh, die Schwester des bekannten Publizisten Anton Kuh,  kennen, die vorübergehend in der Klinik ihres Onkels als Pflegerin tätig war. Er ging mit ihr eine Beziehung ein und schloß in der Folge Freundschaft mit der Familie Kuh in Wien, mit der er dann einige Monate in Wohngemeinschaft verbrachte. Dabei kam es auch zu einem Verhältnis mit Mitzi Kuh, Ninas Schwester.
Anton Kuh griff die Gedanken von Otto Gross auf und stellte sie in seinem Essay „Juden und Deutsche“ äußerst positiv dar.
Nach Kriegsausbruch meldete Gross sich freiwillig zum Militärdienst und arbeitete zunächst als Arzt im Blatternspital des Franz-Josef-Krankenhauses Wien.  Die Vormundschaft des Vaters blieb dennoch aufrecht und Gross verlor den Posten als bekannt wurde, dass er unter Kuratel stand. Im Dezember 1914, knapp vor seinem Tod, stellte Hans Gross ein Gesuch um Aufhebung der Wahnsinnskuratel und beantragte deren Umwandlung in eine beschränkte Kuratel wegen geistiger Anomalie.
1915 arbeitete Otto Gross von März bis Juni am Epidemie- und Barackenspital des Komitats Ungvar, anschließend als landsturmwilliger Zivilarzt, dann Landsturmassistenzarzt am k.k. Epidemiespital Vinkovci in Slavonien. Gegen Ende des Jahres konnt er schliesslich Einsicht in seine Kuratelakte nehmen, beantragte eine Revision des damaligen Beschlusses und eine erneute gerichtsärztliche Untersuchung. Die zuständige Behörde beschloß, weitere Auskünfte über Otto Gross einzuholen.
Otto Gross kämpfte zunächst gegen den als Nachfolger des Vaters vorgesehenen neuen Vormund Dr. Rintelen, akzeptierte dann aber Dr. Hermann Pfeiffer. Es kam aber zu langwierigen Auseinandersetzungen über die Kuratel. Obwohl eine neue gerichtsärztliche Untersuchung in Wien stattfand, wurde die Kuratelsverhandlung nochmals verschoben.

Am 23. November 1916 wurde Sophie, Tochter von Otto Gross und Mizzi Kuh, geboren.
Im Mai 1917 wurde Otto Gross von Temesvar erneut in die Landes-, Heil- und Pflegeanstalt Steinhof in Wien verlegt, von dort aber nach einer Woche schon als „geheilt und bürgerlich erwerbsfähig“ entlassen. Er galt  aber weiterhin „dienst- und landsturmuntauglich“. Im September wurde die Kuratel zuerst ganz aufgehoben, schließlich in eine beschränkte Kuratel wegen Verschwendung und gewohnheitsmäßigem Gebrauch von Nervengiften umgewandelt; die Umwandlung wurde im Dezember rechtskräftig.
Die ständige Auseinandersetzung mit Behörden hinderte Gross nicht, auch weiterhin politisch-psychoanalytische, künstlerische und aktualpolitische Aktivitäten zu setzen. 1916 gab er  zusammen mit Franz Jung, dem Maler Georg Schrimpf und anderen die Zeitschrift Die freie Strasse heraus und in den Jahren 1918 bis 1920 veröffentlichte er zunehmend radikale Texte in politisch-literarischen Zeitschriften: Die Erde, Sowjet, Räte- Zeitung.
In Prag diskutierte er mit Franz Werfel und Franz Kafka den Plan, gemeinsam eine Zeitschrift, „Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens“ zu publizieren. Dieser Plan konnte allerdings nicht realisiert werden. Kafka zeigte sich allerdings von Gross beeindruckt. Am 25. Juni 1920 schrieb er an Milena: „Otto Groß habe ich kaum gekannt; dass hier aber etwas Wesentliches war, das wenigstens die Hand aus dem ‚Lächerlichen‘ hinausstreckte, habe ich gemerkt. …“
- 1918 kam es zu Querelen im privaten Raum. Der Kurator von Otto Gross gab beim Stadtrat Graz zu Protokoll, dass Nina Kuh Gross eine Schachtel Kokain zugesteckt und gedroht habe, „Gross, sich und andere Personen zu vergiften, falls man ihn ihr abspenstig machen wolle“ und ersuchte um behördliches Einschreiten gegen Nina Kuh.

Während der Unruhen im November des Jahres in Wien forderte Gross bei einer Zusammenkunft für sich ein „Ministerium zur Liquidierung der bürgerlichen Familie und Sexualität“. Auch Werfel involvierte sich in die Unruhen und hielt eine Ansprache am Schottentor. Später verarbeitete Werfel diese unruhigen Tage in seinem Roman „Barbara oder die Frömmigkeit“, in dem er Gross unter dem Namen Dr. Gebhart auftreten liess und recht derogativ charakterisierte.
1920 lebte Gross in Berlinbei Franz Jung. Er starb am 13. Februar  in einem Berliner Krankenhaus, in das er eingeliefert wurde, nachdem man ihn durchfroren und halb verhungert auf der Strasse aufgegriffen hatte,. Es ist unklar, ob sein früher Tod ausschließlich als Folg seiner Sucht zu verstehen ist, oder ob er ein Opfer der Grippewelle war, die damals in Berlin wütete. An der spanischen Grippe, die in den Jahren 1918-1920 epidemische Verbreitung fand, starben unter andern Egon Schiele, Ludwig Rubiner und Max Weber. Es wurde beschrieben, dass ihr auch viele kräftige und junge Menschen zum Opfer fielen.

Kommentar und vertiefte Darstellung des Werkes und Lebens von Otto Gross, seiner Rezeption und seiner Auswirkungen:

Obwohl Otto Gross niemals Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung war, ist es angezeigt, ihm einen Platz in dieser „Ausstellung“ einzuräumen.
Seine Bedeutung für die Psychoanalyse als Wissenschaft und als kultureller Inhalt wurde lange Zeit unterschätzt beziehungsweise verdrängt. Auch bei seiner Wiederentdeckung in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts stand das Interesse an einer schillernden und skandalösen Persönlichkeit oftmals mehr im Zentrum als seine wissenschafts- und kulturhistorische Bedeutung. Dieses Interesse überlagert bis heute die rege wissenschaftliche Aufarbeitung von Persönlichkeit, Leben, Werk und Rezeptionsgeschichte, die sich die Internationale Otto Gross-Gesellschaft zur Aufgabe gemacht hat.

Das Interesse am Schicksal des Otto Gross und an seinem Werk, das in den 70er Jahren des 20. Jh. erwachte, galt dabei außerdem überwiegend der „postfreudianischen“, anarcho-kommunistischen Periode in der Entwicklung von Gross. Das wissenschaftliche Frühwerk wurde in der Gross-Rezeption weitgehend ausgespart. Andererseits waren es gerade diese frühen Schriften, die Freuds Interesse an dem jungen Grazer Kollegen weckten und schließlich auch dazu führten, dass Freud ihn als einen der Wenigen bezeichnete, die Eigenständiges zur Psychoanalyse beizutragen imstande waren. Tatsächlich sind diese verschollenen Schriften in ihrer Tendenz, die neurophysiologischen Überlegungen, die Freud zunächst angestellt hatte, weiter zu verfolgen, originelle Beiträge zur frühen Entwicklung der Theorie der Psychoanalyse und zum Verständnis der zerebralen Mechanismen, die bewusstes und unbewusstes Seelenleben steuern. Gleichzeitig repräsentieren sie auch eine in dieser Zeit einzigartige Auseinandersetzung mit der damals aktuellen klinischen Psychiatrie vom Standpunkt der Freudschen Theorie. Insbesondere das Bemühen, den neurophysiologischen Hintergrund der Phänomene, die das Erkenntnisinteresse der frühen Psychoanalyse beanspruchten, aufzuhellen, verleiht dem Frühwerk von Otto Gross Aktualität, da heute erneut die Bezüge zwischen psychoanalytischer Theorie und Neurobiologie zentrale Forschungsanliegen darstellen.

Gross als psychiatrischer Forscher:

Das schmale psychiatrisch-wissenschaftliche Werk von Gross weist ein hohes Abstraktionsniveau, große Begabung zur Theorieentwicklung, sowie eine bemerkenswerte Konsistenz und Kontinuität hinsichtlich der bearbeiteten Inhalte und ihrer Interpretation auf. Innerhalb des psychiatrisch wissenschaftlichen und klinischen Aufgabenbereiches interessierte sich  Gross vor allem für die Störungen des Affektlebens und der Wahnkrankheiten. Als wesentliches Charakteristikum seiner Arbeiten kann gelten, dass er klinische Beobachtungen und Abhandlungen stets in den Kontext theoretischer Fragestellungen rückte.
Gross scheint für einige Zeit eine feste Position im psychiatrischen Diskurs seiner Epoche eingenommen zu haben. Dafür spricht, dass die Aufsätze, die er als sehr junger Autor verfasste, in damals hochrangigen Fachzeitschriften angenommen und publiziert wurden und dass er renommierte Verleger für seine monographischen Darstellungen fand. Auch der Umstand, dass er sich an der akademischen Diskussion beteiligte, wie aus einer Diskussion mit Stransky um den Begriff der Dementia sejunctiva hervorgeht, dokumentiert, dass seine Meinung in Fachkreisen etwas galt. Erwähnenswert in diesem Kontext ist auch, dass sein Beitrag über Aphasie in Monakows Monographie zu dieser Thematik in der Liste der relevanten Literatur aufscheint.
Hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Positionierung als Psychiater ordnete er sich selbst den Vertretern des Monismus und der Degenerationslehre zu. Dadurch zählte Gross zu den ersten deutschsprachigen Psychiatern, die die Evolutionslehre aufgriffen und sie für die psychiatrische Konzeptualisierung fruchtbar zu machen suchten. Noch 1896 beklagte Nordau, dass es in Deutschland keine psychiatrischen Autoren gebe, die sich dieser Thematik widmeten. Die entsprechenden Aufsätze von Möbius erschienen zwischen 1900 und 1903.

Otto Gross stellte, nachdem er sich anfänglich nicht ganz vom konservativen Standpunkt  seines Vaters in der Degenerations-/Evolutionslehre lösen konnte (Gross, 1901; 1902a), bald viele der Gedanken, die sonst aus dieser wissenschaftlichen Richtung geäußert wurden, auf den Kopf und überwand den strengen Determinismus, den diese Lehre insbesondere in ihrer deutschen Variante verfolgte. Wer einen Eindruck davon gewinnen möchte, wie sich sonst die Degenerations-/Evolutionslehre in Deutschland in wissenschaftlichen Artikeln niederschlug, ist gut beraten, einige Jahrgänge des Grossschen Archives und der Politisch-Anthropologischen Revue durchzusehen, in der Beiträge von Hans Gross erschienen. Vor allem der Politisch-anthropologischen Revue ist ganz klar schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Entwicklung hin zum Rassenwahn des Dritten Reiches zu entnehmen.

Eventuell ergriff Otto Gross  damit auch die Gelegenheit, sich gegen seinen Vater zu positionieren, wobei er sowohl bestimmte Gedanken von Nietzsche und die  literarische Interpretation der Bedeutung der Dekadenz zur Unterstützung heranziehen konnte, wie auch die Auffassung von  Cesare Lombroso, der ebenfalls einen eigenwilligen und von seiner politischen (sozialistischen) Haltung geprägten Standpunkt in der Evolutionslehre bezog. Lombroso  befürwortete z. B. die von anderen, insbesondere deutschen, Vertretern der Degenerationslehre  als „kontaminierend“ erachtete und daher gefürchtete ›Rassenmischung‹  und erkannte ihr den Stellenwert einer Grundlage für die evolutive Verbesserung der physischen und intellektuellen Potenziale der Menschheit zu.

Gross’ Theorie der kulturellen und zivilisatorischen Bedeutung der Degeneration überschritt auf jeden Fall den engen kriminalanthrologisch / psychiatrischen wissenschaftlichen Kontext, den sein Vater repräsentierte und stellt eine auf der Degenerationslehre aufbauende und sie gleichzeitig in ihrer aktuellen Richtung überwindende Theorie vom Kulturprozess dar, die in einigen Grundzügen jener ähnelt, die später von Freud entworfen wurde.

Auch in seiner Monographie „Die psychopathischen Minderwertigkeiten“ grenzte er sich deutlich von den Vertretern der klassischen Psychiatrie ab.
In ihr beklagte Otto Gross nicht die „Dekadenz der Kultur“, sondern hob vielmehr die Notwendigkeit der „Kultur der Dekadenz“ hervor. Zusammenfassend ergab sich aus seinen Reflexionen für Gross eine umfassende soziale Bedeutung der Degeneration: für ihn stand sie in einem „tief inneren Zusammenhang mit allem das Neu ist, produktiv ist und eigene Wege geht“. Immer und überall stehe die Degeneration am Anfang jeder Umformung eines festen Typus. In der Natur werde Unzweckmäßiges rasch beseitigt, in der Kultur kommen zwar auch Ausleseprozesse zum tragen, aber unvergleichbar langsamer, unausgesprochener und in steter und unzertrennlicher Verbindung mit indifferenten und unzweckmäßigen Nebenprodukten der Variabilität. Darum stehe man auch stets mitten im Zusammenhang von Evolution und Degeneration. Ganz in diesem Sinn verfasste später Eckart von Sydow, ein Autor, der im Internationalen Psychoanalytischen Verlag veröffentlichte („Primitive Kunst und Psychoanalyse“, 1927), später aber sich dem Nationalsozialismus zuwandte, 1922  eine differenzierte  Darstellung der Kultur der Dekadenz.
Gross Begabung und Eignung zum eklektischen Querdenker manifestierte sich in diesem Kontext auf besondere Weise. Dieser Aspekt seines Werkes ist vergessen und verdient es, wieder ans Licht gerückt zu werden. Seine Interpretation der Bedeutung der „Degeneration“ für den Kulturprozess ist ein früher Beitrag zur psychiatrisch begründeten „Kulturpsychopathologie“ und zum Themenkomplex „Krankheit, Kreativität und Genie“, die in der deutschen Literatur medizinhistorisch mit den Namen Birnbaum, Kretschmer und Lange-Eichbaum verbunden ist.  Birnbaums Werk „Grundzüge der Kulturpsychopathologie“, das als Grundlage dieser Disziplin gilt (vgl. Hoffmann, 1975), erschien allerdings erst 1924.


Gross und die Psychoanalyse

Gross hatte möglicherweise bereits in seinem Elternhaus nicht nur mit psychiatrischen Theorien und vor allem der Degenerationslehre, die sein Vater vertrat, sondern auch mit psychoanalytischer Literatur Bekanntschaft geschlossen. Hans Gross rezipierte die frühen Schriften Freuds und schrieb bemerkenswert positive Rezensionen.
Bereits in der frühen (1902) Monographie „Die cerebrale Sekundärfunktion“ sind Hinweise darauf zu finden, dass Otto Gross sich der Psychoanalyse zuwenden wird: da ist die Aufforderung, den Blick in die Tiefe zu richten, die Tendenz, kulturtheoretische Überlegungen im Kontext der Evolutionstheorie anzustellen und die Tendenz, psychiatrisch-psychologische Konstrukte anhand von Produkten der bildenden Kunst –in diesem Falle der Wiener Sezessionskunst- zu demonstrieren und zu begründen.

Tatsächlich wandte er sich bald sehr intensiv der Psychoanalyse zu. Bereits 1904 erwähnte er Freud als Bezugsautor in seinem Aufsatz über „Biologie des Sprachapparates“ und stellte in seiner in der Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift erschienenen Schrift über die „Differentialdiagnostik negativistischer Phänomene“ Vergleiche zwischen seinen eigenen Interpretationen und der Darstellung von Freud und Breuer an. Er explizierte, dass der Spaltungsmodus, den diese beschrieben hatten,  ihm als systematisierte Zerteilung des Bewusstseinsinhaltes imponiere, während er selbst Bewusstseinszerfall als Störung der Bewusstseinstätigkeit beschrieben hatte, wie er der Katatonie eigen sei. Dieser Aufsatz ist - abgesehen von kasuistischen Darstellungen heute verschollner Autoren wie Warda aus Blankenburg und Stegmann aus Dresden - das erste Dokument der Rezeption der Psychoanalyse in der Psychiatrie.

Lehrveranstaltungen mit psychoanalytischer Zielsetzung bot er 1906 sowohl in Graz wie auch in München an.

Die wichtigste theoretische Frucht der Entwicklung hin zur Psychoanalyse ist sicherlich Gross` Text „Das Freudsche Ideogenitätsmoment und seine Bedeutung im manisch-depressiven Irreseins Kraepelins“, der 1907 erschien. Gross versuchte in dieser Schrift die neurophysiologische Theorie von Wernicke, die klinische Theorie Kräpelins und die analytische Theorie Freuds zur Synthese zu bringen.
In wissenschaftshistorischer Hinsicht erscheint bedeutsam, dass von Gross als psychiatrischem Autor in neuartiger Weise der Wirksamkeit  unbewusster Phänomene eine Bedeutung in der substratbezogenen Psychopathologie zuerkannt wurde, die ihr bislang verwehrt worden war. Meynerts materialistische „Gehirnmythologie“ etwa war ganz auf die Bewusstseinsvorgänge beschränkt. Für Meynert kam die Existenz einer unbewussten Matrix nicht infrage.
Gross nutzte das neue psychoanalytische Modell um über die Meynert’sche Konzeption hinaus zu gelangen. In seiner Begrifflichkeit wurden die unbewussten Motive und Inhalte Teil der Wirksamkeit der Sekundärfunktion. Er führte, um diesen Schritt zu begründen, an, dass durch die empirischen Untersuchungen Freuds belegt worden sei, dass die verdrängten „bewusstseinsunfähigen“ Komplexe außerhalb des Bewusstseins d.h. außerhalb der Ich-Kontinuität eine sehr intensive Betätigung mit wichtigen pathogenen Einflüssen auf das bewusste Geschehen entfalten: „Ich glaube, dass die unbewusste Wirksamkeit des verdrängten Materials mit jenem Vorgang zusammenhängt, den ich als Sekundärfunktion beschrieben habe.“ In seiner Bewertung der Freudschen Lehre kam Gross zum Schluss, dass sie die Vollendung des Prinzips des psychischen Monismus repräsentiere. Sie erst bereite der Erkenntnis den Weg, dass nicht nur jede organische Veränderung ihren Ausdruck in psychischen  Phänomenen finden muss, sondern dass jedes psychische Geschehen zugleich ein physiologischer Vorgang ist. Aus dieser notwendigsten Konsequenz der monistischen Erkenntnis ergab sich dann für Gross die „Rehabilitierung einer „psychischen Ätiologie“.

Jung wies Freud im Brief vom 28. 06. 1907 auf diesen Text hin. Er meinte, dass er interessant sei, dass es ihn aber seltsam anmute, dass Gross Freud letztlich die Bedeutung zuordne, der „Steinmetz am unvollendeten Dom des Wernickeschen Systems“ zu sein. Immerhin aber sei es verdienstvoll, dass Gross alle auf Freud konvergierenden Linien erfasst habe. Ansonsten aber enthalte der Text von Gross „allerhand Sonderbares, obwohl er im Grund ein ausgezeichnetes Verständnis hat.“
Auch Freud selbst äußerte sich in seinem Antwortschreiben ambivalent, hatte aber insgesamt gegen die Grosssche  Interpretation ganz offenkundig nichts einzuwenden. Er schätzte die intellektuellen Fähigkeiten des jungen Kollegen ganz außerordentlich, wie aus seinem Briefwechsel mit C. G. Jung hervorgeht. Am 27.2.1908 schrieb Freud an Jung: „…Sie sind doch der einzige, der auch etwas vom Seinen geben kann; vielleicht noch Otto Gross, der leider nicht gesund genug ist…“
Zu seinen kritischen Anmerkungen fühlte sich er weniger wegen inhaltlicher Aspekte sondern hinsichtlich der Theorielastigkeit und des aufgeregten formalen Stils der Otto Gross`schen Schriften veranlasst. Dieser verriet ihm wohl in zu aufdringlicher Weise den Einfluss des Kokaino-Morphinismus, dem Groß unterlag, wie allgemein bekannt war. Wenn er in diesem Kontext hinsichtlich der überschwänglichen positiven Zuschreibungen seitens Gross zu Wernicke und ihm selbst vom „Einfluss eines abnormen Gefühlslebens“ spricht, spielt er wahrscheinlich ebenfalls auf den Kokaingebrauch von Gross an. 1907 schrieb Freud an C. G. Jung, dass Groß am Rande der Kokainpsychose stehe ( Freud/Jung, 1974; Springer, 1979).

An sich ist die ambivalente Reaktion beider Briefautoren merkwürdig, wenn man das Erscheinungsjahr des Großschen Textes bedenkt. Wenngleich 1907 an sich jenes Jahr war, in dem ein gewisser Durchbruch hinsichtlich psychoanalytischer Publikationen zu beobachten war, blieben Arbeiten, die den engen Horizont überschritten, allerdings auch weiter Mangelware. Bis 1907 waren nahezu ausschließlich Texte von Freud und Adler und auch ein Text von Gross –bereits 1904 – erschienen. Ab 1907 veröffentlichten  auch Abraham, Sadger, Stekel und Rank erste Beobachtungen und theoretische Ableitungen, die jedoch lediglich der Explikation der Freudschen Thesen verpflichtet waren. Schon aus diesem Grund wäre eine positive Aufnahme der Grossschen Publikation zu erwarten gewesen.
Aus wissenschaftshistorischer Sicht  scheint bedeutsam, dass Kraepelin ihm den Fall zur Verfügung stellte, an dem Gross 1907 in seinem „Ideogenitätsmoment“ seine Auffassung von unbewussten Prozessen im Sinne des Zerebralen Sekundärprozesses im Kontext affektiver Erkrankungen exemplifizierte.  Kraepelin scheint gegen diese Zugangsweise und die daraus abgeleiteten Interpretationen, einschließlich der positiven Bewertung der Freudschen Erkenntnisse,  zunächst keine Einwände gehabt zu haben. Für die Akzeptanz des Grossschen Zugangs durch Kraepelin spricht auch, dass er es ihm offenkundig ermöglichte, psychoanalytisch zu behandeln und zu lehren. Freud selbst blieb diese Bedeutung nicht verborgen. Im Brief an Jung vom 1. Juli 1907  (F 34) schrieb er, dass ihn an Gross „Ideogenitätsmoment“ vor allem interessiert habe, dass die Arbeit „aus der Klinik des Oberpapstes stamme, zumindest von ihm zugelassen sei.“

Auch das Werk Die psychopathischen Minderwertigkeiten,  das 1909 bei Braumüller erschien, repräsentierte erneut einen Versuch, eine Brücke zwischen verschiedenen Systemen zu schlagen, wobei Gross auch in diesem Fall der Psychoanalyse die Bedeutung eines zentralen Bezugssystems für die Synthesebildung zuwies. In seiner Einleitung zu der Monographie bekannte sich Gross ausdrücklich zu Freud, dessen Entdeckungen und Theorien er dabei die Bedeutung zuerkannte, unerlässlich für das Verständnis der von ihm abgehandelten pathophysiologischen Phänomene zu sein. Sie alleine ermöglichten eine einheitliche Erklärung sonst „unentwirrbarer und unerklärlicher Erscheinungskombinationen“. (OttoGross, 1909, S. 1). Gross stellte deshalb von Anfang an klar, dass er einen großen Teil seiner  Darstellungen unmittelbar auf den von Freud geschaffenen Boden stelle.

Freud zeigte sich beeindruckt. Die Monographie ist „wieder sehr wertvoll, von kühner Synthese und überaus reich an Gedanken“ schrieb er am 3. Juni 1909 an Jung. Erneut bezog er aber  aus den formalen Kriterien des Textes einen exquisit paranoischen Eindruck, was er mit der Formulierung „Schade um den bedeutenden Kopf!“ zum Ausdruck brachte.
Aus wissenschaftshistorischer Sicht verdient an diesem Text neben der originellen Umwertung der Degenerationslehre im letzten Kapitel der Monographie, die bereits vorhin beschrieben wurde, die Weise besondere Beachtung, in der Gross eine Brücke zwischen Nietzsche und Freud baute

Gross und Freud.

Es ist unklar, ob Gross und Freud sich vor dem Salzburger Kongress jemals persönlich begegnet sind. Franz Jung behauptet in einer biographischen Skizze, dass Gross „Freuds Assistent“ gewesen sei, Dehmlow und Heuer datieren die erste Begegnung mit spätestens 1904. Ein Beleg ist dafür nicht zu finden. Möglich wäre es allemal, dass Freud die Familie Gross kannte. Im Briefwechsel mit Jung bezeichnet er Hans Gross einmal in familiärem Tonfall als „der Alte“. Gross sandte Freud regelmäßig seine Publikationen zu.
Auf jeden Fall kam es in Salzburg anlässlich des Kongresses zu einer Begegnung und auch gleich zu einer Kontroverse.

Gross als psychoanalytischer Autor

Hinsichtlich der Entwicklung „individualpsychologischer“ Theorien war Gross in Einigem ein Vorläufer. Er war ein früher Konflikttheoretiker und in seiner Konflikttheorie zeichnen sich spätere Entwicklungen innerhalb der psychoanalytischen Theoriebildung ab: Ich-Psychologie, die psychische Struktur, der Konflikt zwischen Ich und Über-Ich, dem Freud später so hohe Bedeutung für individuelle und soziokulturelle Pathologie zuordnen sollte. Er erkannte frühzeitig die Auswirkungen der Verschränkung von Sexualität und Aggression in der klinischen Perversion (Sadismus und Saliromanie). So schrieb er 1909 in seinen „Psychopathischen Minderwertigkeiten“: „Es sind da Fälle von sexuellen Perversitäten, die irgendein –seiner Bedeutung nach subjektiv unkenntliches gewordenes – Symbol von Rache enthalten und damit gefährlich werden können.“ Auch hinsichtlich des Masochismus und hinsichtlich der Homosexualität entwickelte er eine originelle Interpretation.

Des Weiteren stellte er frühzeitig Reflexionen über die Bedeutung der Verdrängung aggressiver Impulse für die seelische Befindlichkeit, insbesondere beim männlichen Geschlecht, an. Er ortete als ihre häufigste Folge eine „neuropathische Konfliktangst“, die nach der Formel „ich darf oder kann nicht angreifen, mich nicht wehren, mich nicht rächen“, agiere.

Der zentrale  Inhalt seiner Konflikttheorie war die Lehre vom inneren Konflikt zwischen dem Eigenen und dem Fremden.
Als Elemente dieses Konflikts erkannte Groß zwei zum Menschsein gehörige Grundtriebe. Auf der einen Seite besteht ein Grundtrieb, der darauf bedacht ist die angeborenen Anlagen, die die jeweilige Individualität ausmachen, zur vollen Entfaltung zu bringen. Von diesem Trieb leitet sich das Bedürfnis der Individuen nach Freiheit von äußeren Zwängen her. Auf der anderen Seite besteht aber ein zweiter Grundtrieb, der seinerseits darauf bedacht ist sozialen Anschluss an den Mitmenschen zu finden. Von diesem letzteren Trieb leitet sich das Bedürfnis der Individuen nach Beziehungen her. Aufgrund dieses Triebes ist das Individuum gegenüber den Suggestionen der Fremden offen.

Dieser Konflikt des Eigenen und Fremden ist nach Groß kein primärer Konflikt, sondern wird sekundär durch die gesellschaftliche Realität vermittelt. Das Kind merkt sehr rasch, dass die Äußerung seiner angeborenen Wesensart von der ihn umgebenden Autorität, im Besonderen der Familie, nicht verstanden und von niemandem gewollt wird. Auf Schritt und Tritt begegnen ihm Gebote und Verbote. Als Erfolg dieser Ablehnung wird sich das Kleinkind seiner tief empfundenen Einsamkeit bewusst, auf die es mit starker Angstentwicklung reagiert. Diese ursprüngliche Angst führt zum Zwang sich der Umwelt anzupassen, um den drohenden Liebesverlust abzuwenden. Diese Anpassung gelingt umso leichter, als das Kind damit seinen sozialen Grundtrieb befriedigt. Im Gefolge dieser Anpassung richtet das Kind die äußere Autorität in seinem Inneren wieder auf, indem es sich mit den Mächten identifiziert und somit offen für die Suggestionen der Fremden in der Erziehung wird. Der vormals äußere Konflikt wird somit zu einem Konflikt der Individualität mit der ins eigene Innere eingedrungen Autorität der Fremden. Erst dieses Eindringen des Konflikts in die Psyche des Kindes lässt die beiden Grundtriebe in einem Gegensatz zueinander kommen.

Die weitere Wirkung des Konflikts hängt nach Groß von einer Annahme über den Grundtrieb zum Eigenen ab. Dieser Trieb lässt ein Mehr oder Minder zu, so dass einige Individuen mehr an ihrem Anspruch auf Individualität festhalten als andere. Denjenigen, denen es gelingt, die Suggestionen der Fremden ganz an die Stelle des Eigenen zu setzen, erkranken nicht am Konflikt. Ihre Anpassung gelingt vollkommen, weil sie den fremden Willen in sich aufnehmen und an Stelle des eigenen Willens setzen. Sie werden zur angepassten Masse der ,Allermeisten‘. Diejenigen Individuen aber, die aus welchen Gründen auch immer am Willen zum Eigenen festhalten, - gerade die „Besten“ - geraten in einen pathologischen Konflikt, der sich unter bestimmten Bedingungen in Neurosen, Perversionen oder anderen psychischen Leiden äußern kann.
Die Erkenntnis von der zerstörerischen Macht der äußeren Suggestion führte Gross dazu, eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen als Entwicklungsziel der Psychoanalyse zu formulieren.

Da er nicht in der Sexualität an sich selbst das Motiv für den pathogenen Konflikt erkannte, sondern der Meinung war, dass Sexualität nur darum zum Auslöser des Konflikts wird, weil sie zum Objekt einer Sexualmoral wurde, die den Kontakt mit der wirklichen Natur des Menschen verloren hatte, entwickelte er „sexualrevolutionäre“ Vorstellungen: Er trat er für die Freiheit und Gleichberechtigung der Frau ein und befürwortete freie Partnerwahl sowie neue Beziehungsformen, die er sich frei von Zwang und Gewaltanwendung vorstellte. Und er sah Verbindungen zwischen diesen Themen und den hierarchischen Strukturen in einem weiteren gesellschaftlichen Zusammenhang, so dass er persönliches Leid als untrennbar von dem allgemeinen Leid der Menschheit betrachtete: „Die Klinik des Psychoanalytikers umfasst das ganze Leiden der Menschheit an sich selbst“( Gross 1914, S. 529).

Gross psychoanalytische Praxis.

Gross analysierte in Kräpelins Klinik, wie aus seiner Monographie hervorgeht. Gleichzeitig „praktizierte“ er auch im Cafe Stefanie, wo er namhafte Vertreter der Boheme analysierte (Erich Mühsam) oder zu analysieren versuchte (J.R. Becher, Franziska von Reventlow). 1907 schrieb Mühsam an Freud und bedankte sich für die Heilung von einer schweren Hysterie durch seinen (Freuds) Schüler Dr. Otto Gross.
Auch Ernest Jones war übrigens 1906 in München von Otto Gross in die Psychoanalyse eingeführt worden. Er erwies  sich von ihm äußerst beeindruckt. Noch in seiner Autobiographie bezeichnete er Gross als einen Mann, der „der Erfüllung der romantischen  Vorstellung vom Genie“ nahe gekommen sei.

In der Folge analysierte Gross auf seine Weise an den vielen Orten, an die ihn sein unstetes Leben führte. Diese Arbeit wurde durch die Krankenhausaufenthalte, die einerseits von seiner Sucht bedingt waren, zum andern aber auch eine Folge der komplizierten Vater-Sohn-Beziehung zwischen Hans und Otto Gross waren, unterbrochen, jedoch offenkundig stets wieder aufgenommen. Wie mir einmal von einem italienischen Kollegen mitgeteilt wurde, soll er unter anderem auch Cesare Musatti analysiert haben.

Seine Praxis fand begeisterte Jünger. So schrieb etwa 1913 Simon Ghuttmann (1890 - 1990), ein Wiener Publizist, der überwiegend in Berlin aktiv war, wo er unter anderem den Nachlass des expressionistischen Dichters Georg Heym betreute sowohl in den Otto Gross gewidmeten Ausgaben der Münchner „Revolution“ als auch in der Berliner „Aktion“: „Dieser Arzt Otto Gross zwingt die unterirdischsten Kraftströme des Patienten heraufzusteigen dadurch, dass er den Patienten lebendig bejaht. Viele Psychiater vermögen nicht durch die Symptome hindurch zu greifen; dem Gross enthüllt jede seitlichste Funktion des Kranken das wirkende Prinzip, so wird aller Empirieschleim weggereinigt, die Situation des Arztes Gross zum Patienten produktiv gemacht, zum Heilmittel….jede Behandlung des Doktor Gross stellt hin, dass der Mensch der Ort ist, wo die Welt an den Hörnern zu packen.“

Skandalös, im Sinne einer ‚therapeutischen Grenzverletzung‘, erschien andererseits so manchen bereits zur Zeit seines Wirkens und erscheint auch heute vielfach seine Tendenz, mit Patientinnen persönliche und erotische Beziehungen einzugehen. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass diese Überschreitungen in die Anfangs- und Experimentierphase der Psychoanalyse fallen, bevor noch die entsprechenden Regeln von Freud formuliert worden waren. Bei Gross spielte es zusätzlich eine Rolle, dass er diese seine Praxis im Kontext der Entwicklung seiner gesellschaftspolitischen Theorien als Teil der Umgestaltung der Persönlichkeit durch die psychoanalytische Behandlung im Sinne einer erotischen Emanzipation der Frau verstehen wollte, wie sie auch von Freud bereits zur Zeit der Hysteriestudien (vgl. Fall Elisabeth) als Notwendigkeit erkannt worden war. Jung kritisierte die Methode von Gross gegenüber Freud, indem er darauf hinwies, dass Gross den Standpunkt vertrete, dass man als ersten wesentlichen Schritt die PatientInnen „demoralisieren“ müsse.  Dass auch Jung mit jenem professionellen Verhalten, das später durch Freud „Abstinenz“ genannt werden sollte, seine Schwierigkeiten hatte, darf in diesem Kontext aber auch wieder nicht vergessen werden. Bekanntlich war Sabina Spielrein 1905–1909  Analysandin und dann Geliebte von C.G. Jung und war es dieser Vorfall, der den Briefwechsel mit Freud auslöste und Freud dazu anregte, zwischen 1911 und 1915 Richtlinien und Verhaltensregeln für gute psychoanalytische Praxis – einschließlich einer Lehranalyse - zu entwerfen. Auch Freuds Aufsatz „Über wilde Psychoanalyse“, in dem er sich explizit dagegen ausspricht, dass man PatientInnen zum freien Ausagieren ihrer sexuellen Vorstellungen ermutigen solle, erschien 1911. Da Freud keine Namen nannte, wissen wir nicht, ob der Aufsatz sich auf Gross bezog; andererseits kann man schließen, dass manch andere, die sich als Analytiker bezeichneten und Freud näher standen, dieser Ermahnung bedurften.

Die gesellschaftspolitische Dimension: die Valenz der Psychoanalyse als Vorarbeit zur Revolution; Gross als Vorläufer des FreudoMarxismus

Während des Salzburger Kongresse 1909 wollte Gross einen Vortrag über „culturelle Perspectiven“  der Psychoanalyse halten. Von Freud in die Schranken verwiesen, verlagerte er die Darstellung seiner diesbezüglichen Ideen in den Diskursraum der politischen Literatur.
Damit nahm er die Aufgabe auf sich innerhalb des zeitgenössischen ideologischen Diskurses die Psychoanalyse zu vertreten.

Mit seiner Positionierung der Psychoanalyse stand er zunächst in Widerspruch zu bestimmten aktivistischen und politischen Meinungen, wie man seiner Auseinandersetzung mit Ludwig Rubiner in der „Aktion“ entnehmen kann. Ludwig Rubiner (1881-1920)  war eine führende Kraft innerhalb der jungen linksorientierten Radikalen, der neben seiner eigenen literarischen Produktion auch als Herausgeber von revolutionären Schriften und Sammelbänden („Kameraden der Menschheit“; „Die Gemeinschaft“) hervortrat. Stellvertretend für die politischen Aktivisten des Frühexpressionismus schien Rubiner die Psychoanalyse zu individualistisch ausgerichtet, zu romantisch, zu wenig realpolitisch nutzbar, zu sehr „dem banalen und brutalen therapeutischen Nutzen“ verpflichtet um gesellschaftspolitische Sprengkraft zu besitzen.

Demgegenüber beharrte Gross darauf, dass Psychoanalyse in seinem Verständnis und auch in seiner Art der praktischen Anwendung „die“ Psychologie der Revolution sei, eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass eine radikale Veränderung nicht nur bestimmter gesellschaftlicher Strukturen und Bedingungen, sondern der gesellschaftlichen Ordnung selbst, eingeleitet werden könne. Er selbst war davon überzeugt, dass „die Klinik des Analytikers das ganze Leiden der Menschheit an sich selbst umfasse.“  Nur die Psychoanalyse schien ihm eine Hoffnung hinsichtlich einer allgemeinen Verbesserung der  menschlichen Lebensbedingungen zu beinhalten, den Analytikern kam es zu, die Frage nach der „Menschheitspsychose“ – „wie die Menschheit je vergessen konnte, dass sie sich ihr Elend selbst zufüge“ - zu beantworten. Psychoanalyse als Technik erschien ihm daher nicht begrenzbar auf Interventionen auf individuellem Niveau.

Diese Position vertrat Gross in einer Reihe von Aufsätzen, die ausserhalb der akademischen Welt in politisch engagierten Journalen erschienen. Unermüdlich beharrte er darauf, dass seine klinische Arbeit ihm Evidenz dafür verschafft habe, dass die vorherrschenden autoritären Strukturen die einzelnen Menschen dazu verdammen, krank zu werden –und die „Besten“ von ihnen in ganz besonderer Weise – und dass daher die Revolution als notwendige hygienische Maßnahme im Dienste der Menschheit verstanden werden sollte. Als Basis dieser Revolution bezeichnete er „die innere Befreiung des revolutionären Individuums“. Diese Befreiung sei ein Anteil der psychoanalytischen Aufgabenstellung und diese müsse daher als „klinische Vorarbeit“ gelten. Der Mensch, der durch Psychoanalyse von den Schlacken des Konfliktes zwischen seinen eigenen innersten Bedürfnissen und des von außen auferlegten Zwanges befreit sei, könne die Aufgabe übernehmen als Neuer Mensch in einer radikal veränderten, neuen, reinen Gesellschaft die neuen Bedingungen zu erfüllen: „Die Psychologie des Unbewußten ist die Philosophie der Revolution … Sie ist berufen, zur Freiheit innerlich fähig zu machen, berufen als die Vorarbeit der Revolution“ ( Gross 1913, Sp. 384).

Gross formulierte in diesem Kontext Hauptziele der individuellen Psychoanalyse:
Als erstes auf das Individuum gerichtetes Hauptziel verstand er zunächst Selbsterkenntnis; das Individuum sollte sich seiner inneren Konfliktlage bewusst gemacht, rekonditioniert und damit befähigt werden, bewusste Kontrolle über seine innere Motivationsenergie auszuüben um seine psychischen Funktionen erweitert und harmonisiert einzusetzen.
Nachdem Gross den individuellen psychogenetischen Konflikt historisch reinterpretiert und in die Gesellschaft verlagert hatte und ihn damit zum „zentralen Menschheitskonflikt“ erklärt hatte, wurde diese erste Zielvorgabe ein nur mehr intermediäres Ziel. Die Analyse des Individuums betrachtete Gross in der Folge als ein Werkzeug in der Vorarbeit zur  gesellschaftlichen Veränderung. Dadurch traten neue Ziel der Psychoanalyse in den Vordergrund:
Die Kräfte des befreiten Geistes sollten in revolutionäre Aktion umgeleitet werden.
Psychoanalyse sollte der Grundstein für eine neue Form der Erziehung werden.

In seiner Forderung nach einer radikalen Veränderung der äußeren Bedingungen griff Gross Thesen auf, die damals aktuellen politischen und utopischen Vorstellungen immanent waren.  Stets versuchte er jedoch diese mit psychoanalytischen Annahmen und Erkenntnissen in Bezug zu bringen, bzw. psychoanalytische Interpretationen zur Untermauerung diese Thesen und Vorstellungen beizubringen.
Er schloss sich den verschiedensten Kreisen und Gruppierungen an, nahm stets neue Entwicklungen wahr und bemühte sich, sich dem oftmals rasch wandelnden Geist der Epoche anzupassen. Ebenso war er aber auch bemüht, seine eigenen Überzeugungen in die neue Haltung, das neue utopische Streben, die neue geistes- und aktualpolitische Ausrichtung einzubringen und die Rhetorik und die neuen Inhalte in die eigenen Entwürfe aufzunehmen. Zu seinen Bezugssystemen zählten, neben der Psychoanalyse und bestimmten Aspekten des Nietzscheschen Denkens und des Anarchismus, die Münchner Kosmiker ebenso wie mutterrechtliche Positionen aus dem bürgerlichen und dem sozialistischen Lager und die Vatermord-Stimmung und der „mystizistische Bolschewismus“ des späten Expressionismus.

Sein origineller Beitrag und damit auch seine Bedeutung für die Kultur- und Wissenssoziologie bestand darin, dass er einerseits mit seinen eigenen Texten die Inhalte des expressionistischen Aufbruchs mitbestimmte zum andern aber auch einen exzellent kombinatorischen Geist besaß und die scheinbar disparatesten Theorien zu einem Entwurf einer besseren Zukunft zusammenfassen konnte und über alle Synkretismen hinweg stets den Stellenwert der Psychoanalyse als interpretatorisches System ebenso wie als Erziehungslehre im Sinn eines gesellschaftspolitisches Instrument der Veränderung definierte:

„Die Empirie der psychoanalytischen Methode, konsequent und kompromisslos durchgeführt, projiziert ein neues Bild des Menschen mit der Wirklichkeit seiner Anlagen, seiner Möglichkeiten und Lebensansprüche, zugleich aber auch seines Leidens am Leben und an sich selbst, seines Konflikts mit der Umgebung, mit Gesellschaft und Einzelnen, mit Institutionen, Familie und Autorität.“

Eine Auswahl der Ideen und Konstrukte von Gross bezüglich der „culturellen Perspektive der Psychoanalyse“ und der politischen Psychoanalyse.

1. Der Psychoanalytiker ist mit destruiertem Seelenleben konfrontiert. Man kann nicht annehmen, dass diese Zerstörung aus dem Wesen der  menschlichen Natur abzuleiten ist. Vielmehr resultiert es aus dem Konflikt zwischen einem essentiell guten „natürlichen Selbst“ und in der Kultur angelegten Suggestionen und Konditionierungsprozessen. Dieser destruktive kulturelle Einfluss nimmt im frühen Leben seinen Anfang und wird erleichtert durch die Unfähigkeit des Kindes Widerstand zu leisten. Diese Unfähigkeit wieder beruht auf dem Bedürfnis des  Kindes nach Kontakt und Liebe. Die Angst vor Liebesverlust bringt das Kind dazu, die fremden und verkrüppelnden Wert- und Normvorstellungen zu internalisieren.
Während des analytischen Prozesses führen die Entdeckung des Selbst und die Realisierung der verloren gegangenen natürlichen Kräfte und Freiheiten bei jedem dazu, dass er den Konflikt erkennt, der zwischen dem naturgegebenen Anspruch auf das Leben und den restrictiven Beengungen, die die bestehende Ordnung bilden, besteht. Die Analyse lehrt das Individuum den signifikanten Verlust nachzuempfinden, der durch die Anpassung an Autoritätsverhältnisse bedingt ist. Des Weiteren wirft das durch die Psychoanalyse induzierte Bewusstsein die Licht auf die Furcht vor der inneren Freiheit und lässt sie als Frucht der Bindung an äußere Autorität erkennen. Diese Realisierung wiederum ist die notwendige Grundlage dafür, dass das Individuum die Stärke gewinnt, die repressiven Mechanismen zu durchschauen und gegen sie zu kämpfen. Diese Möglichkeit und ihre Relevanz für revolutionäre Projekte konstituierten für Gross „die letzte Hoffnung für die Menschheit“.
Denn nur auf der Basis eines erneut aufgerichteten Bedürfnisses nach einem „neuen besseren Leben“ im Individuum können auf die Kultur bezogene Forderungen formuliert werden. Gross versuchte klar zu stellen, dass nur auf dem empirisch begründeten Bedürfnis des Individuums, sein inneres Selbst zu befreien, lebendige Werte und Normen konstruiert werden können.

2. Deshalb sollte die moderne Psychologie des Unbewussten der Grundpfeiler für die notwendigen Umwälzungen in allen sozialen Wissenschaften werden. Nur die analytische Technik macht es möglich, die unterdrückten Anteile des Seelenlebens wieder ins Bewusstsein zu rufen und sie von dem verkrüppelnden Einfluss kultureller Suggestionen zu befreien. Und nur dieser Bewusstwerdungsprozess kann den Kampf gegen jegliche Anpassung und Autorität einleiten. In besonderer Weise gegen jene Autorität, die sowohl das Familienleben und zwischenmenschliche Beziehungen steuert, wie auch die Beziehung zum Staat, zum Kapital und zu Institutionen. In diesem Kontext galt Gross Kritik vor allem dem Patriarchat. Ein wesentlicher Teil seines utopischen Entwurfs basierte auf der Neuerrichtung einer matriarchalen Ordnung. Dieses neue Matriarchat sollte die soziale, ökonomische und existentielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann einschließlich der Regelung der aus der Mutterschaft resultierenden Verantwortlichkeit garantieren.
1913 schrieb er in der „Aktion“: „Der Revolutionär von heute, der mit Hilfe der Psychologie des Unbewussten die Beziehungen der Geschlechter in einer freien und Glück verheißenden Zukunft sieht, kämpft gegen Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und gegen das Vaterrecht.
Die kommende Revolution ist die Revolution fürs Mutterrecht. Es bleibt gleichgültig, unter welchen Erscheinungsformen und mit welchen Mitteln sie sich vollzieht.“

3. Der Aufsatz „Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs“, der 1919 in der „Räte-Zeitung“ erschien, dokumentiert, wie Gross sich die Umgestaltung der Gemeinschaft erträumte.

Ihm sind einige seiner wesentlichen Grundgedanken zu entnehmen:
Die Natur des Menschen, so wie er geboren wird, strebt nach zwei großen Werten: Freiheit und Beziehung. Der natürliche Anspruch des Menschen an den Menschen ist  daher die freie Beziehung freier Individualitäten.
Diese Bestrebungen sind der Anlage nach harmonisch,.
Unter dem Einfluss der Außenwelt in einer paternitär-autoritären Ordnung entsteht ein innerer Konflikt zwischen Eigenen und dem Fremden, der zur universellen Krankhaftigkeit des menschlichen Trieblebens, zum Willen zur Macht und  zur Unterwerfungsbereitschaft führt.
Die autoritäre Ordnung bewirkt daher alles Böse und alles Leid. Sie steht hinter den Strukturen von Macht und Vormacht, hinter Klassenrecht und Kapital; sie steuert die autoritative Rechtsgebundenheit und sie ist verantwortlich für den Machtkampf zwischen den Geschlechtern in Ehe und Prostitution.
Die patriarchale Ordnung bewirkt die latent unterbewusste Psychologie des Familienlebens: Besitzanspruch an Weib und Kind und Verankerung bourgeoiser Werthaltungen, Anpassungen und Befriedigungen
Der Wille zur Beziehung im Gegensatz zum Willen zur Macht ist der elementare Gegensatz der revolutionären zur bürgerlichen Psyche. Ihn freizulegen ist daher das vordringlichste Ziel jeder revolutionären  Bewegung.
Die völlige Befreiung der Frau aus ihrer privaten Abhängigkeit und aus der Hörigkeit dem Mann gegenüber ist die absolute Grundbedingung jeglicher Befreiung. Die vaterrechtliche Familie muss daher zerschlagen werden, ein kommunistisches Mutterrecht  muss aufgebaut werden.
Grundsätzlich ist die Vorbedingung jeder sittlichen und geistigen Erneuerung  eine totale Befreiung der werdenden Generation aus der Gewalt der bürgerlichen Familie durch das kommunistische Mutterrecht und aus der Anpassungsschule des Staates durch ein revolutionäres Unterrichtssystem.

Aus diesem Katalog ist abzulesen, dass Gross sich zwar dem Bolschewismus öffnete, dass ihm aber jegliche Parteidoktrin fremd war und sein „Marxismus“ den Klassenkampfgedanken nicht enthielt. Die Schriften sozialistischer Autoren waren für ihn interessant, soweit sie eine Kritik des Patriarchats einschlossen und die Forderung nach einer Umwandlung der Gesellschaftsordnung zum Mutterecht implizierten (Engels, Marx, Bebel). Die Revolution in Russland wurde von ihm und von vielen seiner expressionistischen Weggefährten begrüßt, weil sie die bürgerliche Struktur zerstörte, weil sie eine Umwandlung von der Herrschaft der Väter zur gemeinschaftlichen Herrschaft der Geschwister versprach.
Viele Intellektuelle und Künstler der expressionistischen Generation begegneten außerdem der neu installierten Sowjetrepublik mit einem religiösen Pathos und mit religiös verankerten Heilserwartungen. Auch in diese Haltung klinkte Gross sich ein, indem er sich als psychoanalytischer Mythenforscher betätigte und die Genesis und den Sündenfall neu interpretierte. Er meinte, dass nicht die sexuelle Handlung selbst den Sündenfall konstituiert haben könne, da der Mensch zweigeschlechtlich angelegt worden sei und das biblische Fortpflanzungsdiktum für ihn wie für die andern Tiere gegolten habe müsse. Es müsse daher eine Handlung gewesen sein, die dazu geführt habe, dass das  Wissen um die Reinheit alles Sexuellen, die freie Größe im Erleben jeder Sexualität an sich durch eine tiefe innere Veränderung verloren gegangen sei. Es müsse eine die Sexualität erniedrigende Handlung gewesen sein, eine Entstellung des inneren Verhältnisses zur Sexualität, auf jeden Fall eine Sünde gegen Wesen und Sinn der Sexualität. Mit dieser sündhaften Handlung könne aber nichts anderes gemeint sein als die Abkehr vom freien Mutterrecht der Vorzeit und die Etablierung des autoritären Vaterrechtes, mit Ehe, Abhängigkeit der Frau und der bürgerlich-autoritären Familie. „Nach der modernen Prähistorienforschung wäre also ein vergewaltigender Akt auf seiten Mannes die eigentliche Erbsündenschuld, der Einleitungsakt  zur Katastrophe….“

Die Prophezeiung, dass der Frau die Aufgabe zukommen werde, der Schlange den Kopf zu zertreten wird von ihm als Auftrag zur Aufhebung des Sündenfalls im Sinne der Zerstörung der patriarchalen  Machtverhältnisse und der Wiedererrichtung des Matriarchates interpretiert. Die Genesis sagt voraus, dass Erlösung  durch eine innere Erhebung der Frau möglich gemacht werden wird: „Die Frau wird demselben bösen Prinzip den Kopf zertreten, durch welches einst die ungeheure Verwirrung in die Welt gekommen ist: dem Machtprinzip in allen menschlichen Beziehungen……“

In diesem Kontext ist zu betonen, dass Gross nur einer von vielen Autoren war, die zur Legende von der mutterrechtlichen Organisation und der Bedeutung des Überganges vom Matriarchat zum Patriarchat für Geschlechterordnung und Gesellschaftsprinzipen beitrugen. Er lebte in einem Umfeld, in dem mutterrechtliche Theorien mit verschiedenen Brechungen und verschiedenen ideologischen Hintergründen im Schwange waren. Einflüsse dieser Art kamen sowohl von seiten des Schwabinger Boheme-Milieus wie auch allgemein von der Bachofen-Rezeption und der Patriarchatskritik im Frühmarxismus bei Marx, Engels und Bebel.  Hinsichtlich der Einstellung zu erotischer Freiheit und Freizügigkeit, die ebenfalls in vielen intellektuellen Zirkeln, unter anderem auch im Umfeld der Psychoanalytischen Interessengemeinschaft (Schnitzler, Kraus, Urbantschitsch, Wittels),  diskutiert und praktiziert wurde, finden wir bei Gross insofern eine besondere Ausrichtung alser sich auch in diesem Kontext von den  Vorstellungen der patriarchalen Kultur abgrenzte. Revolutionäre sexuelle Freiheit sollte als „Vorarbeit“ für eine spätere mutterrechtliche Gesellschaft verstanden werden. Daher baute sich seine Vorstellung nicht überwiegend auf „Männerfantasien“ von Freiheit und „Hetärentum“ auf – wie bei Karl Kraus und Fritz Wittels, Max Brod und dem Schwabinger Kreis -  sondern schloss explizit die freie Verfügung der Frau über sich selbst innerhalb einer stabilen Beziehung ein. So wie er  während seiner Ehe mit Frieda Schloffer selbst Beziehungen zu anderen Frauen einging, hatte Frieda Schloffer auch Verhältnisse mit anderen Männern, die durchaus von dem Wunsch geprägt sein konnten, dass aus dieser Beziehung ein Kind resultieren sollte.

Auswirkungen auf den gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Diskurs.

Vieles spricht dafür, dass die Thesen und das Leben des Otto Gross für viele Vertreter der intellektuellen,  künstlerischen und politischen Avantgarde Deutschlands in der bewegten Epoche 1906 bis etwa 1925 synonym waren für „Psychoanalyse“.  In geringerem Ausmaß gilt das auch für Österreich und die Schweiz.
Dieser Umstand muss berücksichtigt werden, will man den gesellschaftspolitischen Diskurs um Psychoanalyse in jenen Jahren verstehen. Insbesondere muss berücksichtigt werden,  dass in diesem Prozess auch die Freudsche Psychoanalyse in den Sog der Kritik geriet bzw. die Rezipienten kritischer Darstellungen hier nicht die notwendigen Unterscheidungen treffen konnten.
Es war aber sicherlich die Grosssche Auffassung von Psychoanalyse - in positiver Auslegung und von der expressionistischen Rhetorik befreit - die die so bezeichnete psychoanalytische Basis der Ausführungen über die „Technik des Glücks“  bei Franz Jung bildete. Und es war die sprengende Kraft der Gross’schen Psychoanalyse in ihrer Transformation durch Berlin DADA, die von Raoul Hausmann in seinem „Manifest gegen den Geist von Weimar“ beschworen wurde: „Die Psycho-Analyse ist die wissenschaftliche Reaktion auf diese faulende Pest…“ (gemeint ist die bourgeoise Haltung und die affirmative Funktion der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft).
Diese Darstellung wiederum konnte Ängste stimulieren und gab den Kritikern aus verschiedenen konservativen Lagern die Möglichkeit, die Psychoanalyse generell als subversive Kraft zu verteufeln.

So war wohl auch die spezielle Position der Gross’schen Psychoanalyse gemeint, wenn im Waschzettel zu Emil Szyttias Utopiekritik „Klaps“ impliziert wird, dass „die Psychoanalyse teuflisch und zynisch jede Genialität vernichtet und jede Individualität zum Massentierhaften reduzieren will“,  es konnte aber auch dieser Anwurf generalisierend verstanden und gegen jegliche Psychoanalyse gewendet werden. Auch in Werfels Theaterstücken werden allgemein „Psychoanalytiker“ genannte Gestalten einer heftigen Kritik unterzogen – die Kritik richtet sich aber gegen Gross. Und noch nach dem Zweiten Weltkrieg, 1952,  als Gross bereits völlig der kulturellen Verdrängung unterlag, hat Leonhard Frank in seiner Autobiographie „Links, wo das Herz ist“ Sophie Benz als frühes Opfer der angewandten Erkenntnisse Sigmund Freuds, der das Gesicht der Welt verändert hat“ bezeichnet – obwohl ihr Schicksal eindeutig an das von Otto Gross gebunden war; dieser tritt jedoch, im Gegensatz zu Freud, der namentlich genannt wird,  im Text von Frank verschlüsselt als „Dr. Kreuz“ in Erscheinung.

Die psychoanalytische Rezeption von Gross und das Problem der Pathographie:

In dem Schreiben, das er aus seiner Internierung in Tulln 1913, an Maximilian Harden richtete, äußerte Gross die Befürchtung, dass „alles Streben meiner Existenz, Alles, für das ich gelebt, als pathologisch entwertet wird, dass die Motive, die mein Leben führen, nicht ernst genommen werden.“. Er wollte klar machen, dass er diese Entwicklung mit alen Mitteln verhindern wolle.
Gelungen ist ihm dies nicht. Entscheidend dafür wieder war die Haltung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Kollegen, denen er anvertraut war. Jung verdammte ihn mit der Diagnose „Dementia präcox“, die es möglichte, dass Gross unter Kuratel gestellt wurde und dass seine Produktion und sein Leben nunmehr stets unter Mitbedacht auf diese Diagnose bewertet werden musste. Heuser bezeichnete diese Vorgangsweise kürzlich als „Brudermord auf der Couch“.  Stekel, der nicht müde wurde, zu betonen, dass er Gross gegenüber freundlich eingestellt war, der ihm Posten verschaffte, die posthume Ausgabe von den „Drei Studien über den inneren Konflikt“ förderte und einen positiven Nachruf auf ihn hielt, trug nichtsdestoweniger dadurch, dass er ihn als Fall veröffentlichte, entscheidend dazu bei, dass genau die Befürchtung von Gross wahr wurde, dass man sein Leben und Werk pathologisieren werde. Stekel interpretierte die gesellschaftspolitische Einstellung von Gross als Resultat einer homosexuellen Einstellung dem Vater gegenüber und der masochistischen Verkehrung einer höchst sadistischen Struktur, die erotische Lebensführung ebenfalls als Resultat der schweren und abgewehrten homosexuellen Bindung an den Vater und seine Haltung der Frau gegenüber als Abwehr extremer Eifersucht. Nimmt man eine derartige Interpretation ernst, bleibt dann tatsächlich nur mehr wenig Raum, die Grosschen Konzepte auch als eigenständige bewusste schöpferische Impulse zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu verstehen. Offen bleibt lediglich die Relativierung derartiger Interpretationsversuche: sind derartige psychische Prozesse Gross eigentümlich oder im Hintergrund vieler sozialer und politischer Reformbestrebungen zu finden? Auf jeden Fall weist das Problem darauf hin, dass die Pathographie ein Mittel sein kann, das durchaus missbräuchlich im Sinne einer Abwertung des Analysierten eingesetzt werden kann. Auf Freud und sein Werk wird diese Strategie von den „Bashern“ ja ebenfalls angewandt.

Ein verschlüsselter Nachruf:

Eduard Trautner zu Dr. Klage alias Otto Gross in „Gott, Gegenwart und Kokain“:  „….seine Begabung war groß, sie fand keinen Platz sich auszuwirken. Dümmer und mittelmäßiger hätte er an irgendeinem Posten Gutes geleistet. So verbrannte er an seinen Möglichkeiten…“

Autor: Alfred Springer, 2008

Redaktion: CD, 2008