Thomas Aichhorn (2012): Zur Situation der psychoanalytischen Ausbildung in den ersten Jahren nach 1946

Thomas Aichhorn (2012): Zur Situation der psychoanalytischen Ausbildung in den ersten Jahren nach 1946

Die Wiederaufnahme in die internationale psychoanalytische Community war entscheidend für die Identität und Perspektive der kleinen Gruppe. Für eine gewisse Zeit danach war die Mitgliedschaft in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung nicht gleichzusetzen mit dem erfolgreichen Abschluss der psychoanalytischen Ausbildung. Man hatte also die Ausbildung der Wiener Arbeitsgemeinschaft als nicht ausreichend für die klinische Ausübung der Psychoanalyse nach IPV Standards angesehen. Auch wurde - vorerst - ehemaligen Mitgliedern von NS-Organisationen die Mitgliedschaft in der WPV verweigert.

„Im Dezember 1950 schrieb Anna Freud an Grete Bibring, die damals Sekretär der IPV war: ‚Darf ich Sie gleichzeitig auf noch einen Punkt aufmerksam machen, der vielleicht beim nächsten Kongress auf uns zukommen wird. Es ist besser, darauf vorbereitet zu sein. Es betrifft die Wiener Vereinigung, die mit Aichhorns Tod ihren Gründer und Vorsitzenden verloren hat. Wir wissen nichts über die Entwicklungen dort und ich würde gern wissen, ob Sie irgendwelche Berichte bekommen haben. Wer ist der Vorsitzende der Vereinigung? Gibt es dort ausreichend viele, vollständig ausgebildete Mitglieder? Dr. Fleischmann in Topeka könnte in der Lage sein, zu beurteilen, ob die maßgeblichen Leute dort eine Garantie für ein ordentliches Funktionieren der Vereinigung sind oder nicht’ (A. Freud an G. Bibring, Brief vom 9. 12. 1950; Kopie: AFP/LoC).

Nach Aichhorns Tod war – von 1949 bis 1957 – Winterstein Obmann der WPV geworden. Im April 1950 schrieb er an Anna Freud: ‚Vor allem beglückwünsche ich Sie aufrichtig zu Ihrem großen Erfolg in Amerika, von dem ich durch Dr. Hitschmann erfuhr. Es müssen für Sie erhebende Tage gewesen sein. […] Da ich in der letzten Generalversammlung zum Obmann der Wiener Vereinigung gewählt wurde […] stelle ich mich Ihnen als unwürdiger zweiter Nachfolger Ihres Vaters vor. Allerdings ist die jetzige Wiener Vereinigung lange nicht das, was sie war. Zunächst bemühe ich mich, Richtlinien für die Ausbildung festzulegen. Der provisorische Lehrausschuß, der aus mir, Dr. Aufreiter und Dr. Genner-Erdheim besteht, soll durch einen definitiven ersetzt werden; die Bildung stößt auf Schwierigkeiten. Der Gegensatz zwischen Ärzten und Nichtärzten, auch politische Momente machen sich in unserem kleinen Kreis spürbar.’ (A. Winterstein an A. Freud, Brief vom 24. 4. 1950; Original: AFP/LoC.)

Anna Freud antwortete ihm im Juli 1950: ‚Ihre Glückwünsche für die amerikanischen Ereignisse beantworte ich gerne mit einer Gratulation zu Ihrer Obmannstelle. […] In den letzten Tagen habe ich hier Frau Dr. Bolterauer gesprochen, die mir auch allerlei von der Wiener Vereinigung und der Arbeit dort berichtet hat. Es ist leicht sich vorzustellen, dass das analytische Leben in Wien viele Schwierigkeiten mit sich bringen muss’ (A. Freud an A. Winterstein, Brief vom  19. 7. 1950; Kopie: AFP/LoC.).

Ab 1950 setzte sich der Lehrausschuss der WPV aus Winterstein, Hans Aufreiter und Lambert Bolterauer zusammen. Bis zur außerordentlichen Generalsversammlung vom 21. 9. 1954 hatten nur Winterstein und Hans Aufreiter den Status eines Lehranalytikers, bei dieser Generalsversammlung wurden auch Friedl Aufreiter, Hedwig Bolterauer, Lambert Bolterauer, Tea Genner-Erdheim und Wilhelm Solms zu Lehranalytikern gewählt. 
Übrigens, Ernst Ticho und Gertrude Ticho (geb. Höllwarth) waren die ersten „wirklichen“ Kandidaten der WPV. Sie wurden nach Abschluss ihrer Ausbildung Außerordentliche Mitglieder (wahrscheinlich 1951).  

Text: Thomas Aichhorn, 12.5.2012

Redaktion: CD