Alfred Adler - Chronologie

Chronologie:

Am 7. Februar 1870 geboren als zweites von sieben Kindern, jüdischer Herkunft.
Geburtshaus Alfred Adlers: Wien 15., Mariahilfer Straße 208.
Vater (*1833 oder 1835 Kittsee/damals Ungarn - † 1922 Wien), Getreidehändler. Mutter Pauline Beer (1845 *Trebitsch/Mähren - † 1906 Wien)
Als Kind kränkelnd (Rachitis, Lungenentzündung, Stimmritzenkrampf, zwei Unfälle).
Volksschule und Gymnasium in Wien
1988 Matura im Humanistischen Gymnasium in Hernals, anschließend Medizinstudium an der Universität Wien.
Mitglied der Studentengruppe Veritas.
In einer sozialistischen Gruppe lernte er die aus Russland stammende politisch engagierte Raissa Timofeyevna Epstein kennen, die in Zürich und Wien studierte.
1895 Promotion, anschließend Ausbildung als Augenarzt, Internist und Neurologe.
1897 Hochzeit mit Raissa Timofeyevna Epstein in Moskau. Das Paar hatte vier Kinder:

Dr. oec. Valentine Dina Adler (1898 -1940), Sozialistin, 1940 in der Sowjetunion umgekommen.
Dr. med. Alexandra Adler (1959 vereh. Gregersen) (1901–2001), Psychiaterin und Neurologin, 1935 in die USA emigriert.
Dr. phil. (Physik) und Dr. med. Kurt Adler (1905–1997), Psychiater, 1963 Präsident der „Internationalen Vereinigung“.
Cornelia „Nelly“ Adler 1932 vereh. Sternberg, (1909 - ), Schauspielerin, 1938 in die Schweiz emigriert.

Niederlassung als Allgemeinarzt, Neurologe. Praxis in Wien II, Nestroyplatz 44, wo er mit den schwierigen Lebensbedingungen seiner unterprivilegierten PatientInnen konfrontiert war und für ihn die Notwendigkeit von sozialmedizinischen Maßnahmen unübersehbar wurden.
1904 Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde; Konvertierung zum Protestantismus (AB), war aber bekennender Atheist.

Alfred Adler und die Psychoanalyse:
1902 Alfred Adler trat einem in Gründung begriffenen Kreis um Sigmund Freud bei, der als „Psycholgische Mitwoch-Gesellschaft“ in die Geschichte eingehen wird.

“Ein kleiner Kreis von Collegen und Anhängern will mir das große Vergnügen bereiten, sich einmal in der Woche am Abend (1/2 9h post coenam) bei mir einzufinden, um die uns interessierenden Themata der Psychologie und Neuropathologie zu besprechen. Ich weiß von Reitler, Max Kahane, Stekel. Wollen Sie die Güte haben, sich uns anzuschließen.”
(Sigmund Freud, Brief an Adler, 2.11.1901, zitiert nach B. Handlbauer, 1990, iii)

15. April 1908: Die Mitglieder der Mittwoch-Gesellschaft beschlossen die Gründung einer Psychoanalytischen Gesellschaft und traten erstmals unter diesem Namen in die Öffentlichkeit.
13.10.1910: Alfred Adler, der erste Obmann der Wiener Vereinigung, reichte das Protokoll über die „Sitzung der constituierenden Versammlung der ‚Wiener Psychoanalytischen Vereinigung’“ bei der amtlichen Behörde mit der Bitte „um Bescheinigung des Vereinsbestandes“ ein.

Aber Adler hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon weit entfernt von Freud. Mit seinen Thesen über die Organminderwertigkeit  (1907) ging Adler  von einer konkreten anatomischen und/oder physiologische Schwäche eines Organs aus, die zu psychologischen Überkompensationsbestrebungen und damit zu neurotischen Reaktionen und Charakterbildungen führt. Die infantilen Wurzeln der den Träumen und den Symptombildungen zugrunde liegenden unbewussten, triebgesteuerten Wünsche wurden für Alfred Adler immer unwesentlicher. Mit der Organminderwertigkeit wies er wieder den realen (körperlichen) Verhältnissen eine entscheidende, primär auslösende  Rolle zu und nicht den psychischen Konstruktionen.

Noch in der Freudschen Triebtheorie verhaftet stellte Adler 1908 dem Sexualtrieb den Aggressionstrieb gegenüber. Sadismus und Masochismus wären also eine Verschränkung dieser beiden Triebe. Dies klingt nach Freuds Triebdualismus der späteren Jahre. Aber Adler verstand hier unter Trieb nur mehr eine Abstraktion von Elementarfunktionen der Organe und so kannte er auch zahllose Triebe: den Seh-, Hör-, Harn- und Stuhltrieb, usw. Allein dem Aggressionstrieb räumte er eine zentrale Stelle ein, er wurde bei ihm zur übergeordneten dynamischen Kraft, zum höheren Motivationsprinzip. Daraus entwickelte sich bei ihm zwei Jahre später der Begriff des männlichen Protests.
Freud würdigte zwar das Konzept des männlichen Protests, sah darin aber „seine narzisstische Natur und Herkunft aus dem Kastrationskomplex“ (Freud 1914c, 159) und kritisierte die Überbewertung dieses Konzepts und seine Verankerung in einem sozialen Wertesystem.

Vom männlichen Protest war es nur mehr ein Schritt zum Willen zur Macht, zur Vollkommenheit als ein ichhaftes Streben nach Kompensation von Unsicherheit, Weiblichkeit, Minderwertigkeitsgefühl, Schwäche. Dieser Wille zur Macht wurde zur leitenden Kraft, die er als Theorie in einem sozialen Wertesystem fest verankerte. (Ansbacher et. al. 1956/2004, 95, 96)

Im Juni 1911 trart Adler als Mitherausgeber des Zentralblattes zurück und zeigte seinen Austritt aus der Vereinigung an. David Josef Bach, Franz Baron von Hye und Stefan von Maday folgten ihm.

20. Juni 1911:  Furtmüller, Hilferding, Friedjung, Franz und Gustav Grüner, Klemperer, Oppeheim unterzeichneten eine Erklärung, in der sie sich mit Adler solidarisierten, die Rücksichtslosigkeit der Machtkämpfe kritisierten und betonten, in Diskussion mit Adler und weiter Mitglieder der Vereinigung bleiben zu wollen. Sie wurden in der Generalversammlung vom Oktober 1911 vor die Wahl gestellt. Alle bis auf Friedjung traten aus der Vereinigung aus.

Die Freud-Adler-Kontroverse wurde von Bernhard Handlbauer (1990) dokumentiert.

Freud in einem Brief an Jung vom 3.3.1911: „Seit gestern bin ich der Obmann der Wiener Gruppe. Es ging nicht länger mit Adler, er sah es ein und erklärte es selbst als inkompatibel mit seinen neuen Lehren, die Leitung der Gruppe zu führen. Stekel ist jetzt ein herz und eine Seele mit ihm und ist ihm gefolgt, und ich habe mich entschlossen, nach diesem missglückten Versuch die Zügel wieder in die Hand zu nahmen.“

1914 zitierte Freud Alfred Adler (1914d, 94):
„Glauben Sie denn, dass es so ein großes Vergnügen für mich ist, mein ganzes Leben in Ihrem Schatten zu stehen?“

Individualpsychologie: 

1911 Adler gründet den „Verein für Freie Psychoanalyse“
1913 Umbenennung in „Verein für Individualpsychologie“
1914 Gründung der „Zeitschrift für Individualpsychologie“
1915 Ansuchen um die Venia Legendi für Neurologie für »Über den nervösen Charakter“. (Einstimmige Ablehnung durch das Professorenkollegium der Medizinischen Fakultät der Universität Wien).

1916 Einberufung Adlers zum Kriegsdienst. Seine Erfahrungen im 1. Weltkrieg machten ihn um Pazifisten und verstärkten sein soziales Engagement.
1917 Militärarzt im Garnisonsspital Nr. 9 in Krakau, dann im Kriegsspital Grinzing in Wien

Individualpsychologie und das Rote Wien:

Adler wollte eine lebensnahe Psychologie schaffen, die dem Menschen ermöglicht, seine Mitmenschen aus deren jeweils individuellen Lebensgeschichten heraus zu verstehen. Seine ab 1920 bewusst im schlichten Stil gehaltenen Bücher und seine Vorträge sollten seine Psychologie jedermann zugänglich und zum Allgemeingut machen.
1919/20 Kooptierung Adlers in den Wiener Arbeiterrat.
1920 Adlers Vorträge wurden in „Praxis und Theorie der Individualpsychologie “ publiziert.
1920er Jahre: Vorlesungsreihe an den Wiener Volkshochschulen, die er 1927 unter dem Titel „Menschenkenntnis“ publizierte.
1918/19 Eröffung der Beratungsstelle für Erziehung im Volksheim Wien XV, die Adler leitete und der Individualpsychologie als Klinik und Ausbildungszentrum diente.
Von 1920 bis 1934 wurden 28 Erziehungsberatungsstellen eröffnet.
1925 gründete in diesem Rahmen Sofie Lazersfeld (1881–1976) die Erziehungs- und Eheberatungsstelle in ihrer Wohnung in Wien I, Seilergasse 16.
1920-1934 Versuchsschule in der Staudingergasse, Wien XX. Oskar Spiel (1892–1961) entwickelte dort eine individualpsychologische Pädagogik.
September 1931: Der Wiener Stadtschulrat eröffnete eine Schule für schwer- und schwersterziehbare Kinder (Schweglerstraße, Wien XV), die nach individualpsychologischen Prinzipien geführt wurde.
1920 bis 1923 Adler unterrichtete in der Schönbrunner Erziehungsschule der Wiener Kinderfreunde in Wien XIII.
1924 bis 1934 Dozent am Pädagogischen Institut der Stadt Wien.

Internationale Erfolge:

1. Internationaler Kongress der Individualpsychologie1922 in München
2. Internationaler Kongress der Individualpsychologie1925 in Berlin
3. Internationaler Kongress der Individualpsychologie1926 Düsseldorf
4. Internationaler Kongress der Individualpsychologie1927 in Wien
5. Internationaler Kongress der Individualpsychologie1930 in Berlin

1923 Gründung der „Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie“.
Vortragreisen in Europa (Belgien, Tschechoslowakei, Frankreich, Großbritannien, Jugoslawien, Niederlande, Schweiz, Skandinavien).
1929 bis 1932 Adler hielt regelmäßig Kurse in Berlin ab.
1930 wurde Alfred Adler anlässlich seines 60. Geburtstags von der Stadt Wien geehrt.
1929 Übersiedlung der Familie Adler nach Salmannsdorf (Wien XIX, Dreimarkstein 12). In dieser Landvilla wohnte Adler bis 1935, danach hielt das Haus ein Schwiegersohn, es wurde 1937 verkauft.
Bis 1935 hielt Adler seine Stadtwohnung in Wien I, Dominikanerbastei 10.

Alfred Adler in den USA:

1926 Beginn der Vortragsreisen in die USA (1926/27, 1929, 1930).
1930 Visiting Professor am Medical Center der Columbia University in New York.
1932 Visiting Professor of Medical Psychology ans Long Island College of Medicine (heute State University of New York Downstate Medical Center).
Lehrtätigkeiten auch in anderen Einrichtungen in New York: Temple Emanu-El, Vanderbilt Clinic of Columbia Presbyterian Medical Centre und New School for Social Research.
Bis 1934 unterrichte Adler jeweils 6 Monate in New York und 6 Monate am Pädagogischen Institut der Stadt Wien.

12.2.1934: Beginn des Bürgerkrieges in Wien. Die Regierung verhängte das Standrecht und erklärt die Sozialdemokratische Partei für aufgelöst. Bürgermeister Seitz und die sozialdemokratische Führung Wiens wurden verhaftet.

1935 Endgültige Übersiedlug nach New York mit seiner Frau und den Kindern Alexandra und Kurt.
1935 Gründng des „International Journal of Individual Psychology“.
April 1937 Vortragsreise nach Europa (Frankreich, Belgien, Niederlande, London) Anschließend zu einer einwöchigen Vorlesungsreihe an der Universität Aberdeen in Schottland.

28. Mai 1937 Alfred Adler verstirbt in Aberdeen während eines Spazierganges an Herzversagen.

Individualpsychologie und Sozialpsychologie:

Adlers Botschaft war einsichtig, gut nachvollziehbar, den bewussten Alltagserfahrungen nah, pragmatisch und aktiv. Unmittelbar hilfreich entfaltete er damit eine positive gesellschaftliche Kraft und konnte seinerzeit breite Kreise ansprechen. Seine theoretischen Aussagen wurden in seinen späteren Jahren allgemeiner, weitere Ausarbeitungen und Vertiefung seiner Psychologie schienen ihn weniger zu interessieren.

Das Streben nach dem Willen zur Macht galt zu bekämpfen: „Die Anschauungen unserer Individualpsychologie verlangen den bedingungslosen Abbau des Machstrebens und die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls.“ (N.Ch., S. 28) lesen wir bei Adler - datiert mit 1912 - in:  „Über den nervösen Charakter“ (Ansbacher 1956/2004. S. 96), da Adler den ursprünglichen Text von 1912 später überarbeitet hatte und inzwischen das Gemeinschaftsgefühl einen zenralen sTellenwert in seinem Denken geewonnen hatte.

Es waren vor allem die Erfahrungen im 1. Weltkrieg, die Adler im Gemeinschaftsgefühl neben dem Willen zur Macht den bedeutendsten Faktor innerhalb der Individualpsychologie sehen lassen. Er verstand diese denn auch eigentlich als eine Sozialpsychologie – als eine Lehre der Stellung des Einzelnen zu den Fragen des Gemeinschaftslebens.  Adlers sozialpsychologischer Zugang war also nicht ergänzender Aspekt einer Theorie, Untersuchungsgegenstand oder eines der Anwendungsgebiete wie etwa in der Psychoanalyse. Adler machte daraus das Grundprinzip psychischer Dynamik schlechthin. (Bezzel S. 203)

Der Individualpsychologie – in den Zwanzigerjahren selber immer mehr auch Bewegung und Weltanschauung – ging es nunmehr vermehrt um die Erziehung zur Gemeinschaft.  Im Roten Wien erfährt sie denn auch ihre Blütezeit und versteht „vielfach ihre pädagogisch-psychologische Arbeit als politische Aufbauarbeit“. (Bezzel, 59)

„Sozialistische Erziehung und Individualpsychologie stimmen in ihrer Stellung gegen Benachteiligung, für eine bessere Gesellschaft und für eine Erziehung in der Gemeinschaft überein.“ (Bezzel, 129) Beide Bewegung teilten die Betonung der Gemeinschaft, das Menschenbild und den Erziehungs- und Forschrittsoptimismus. (Bezzel, 108). Nach den Erschütterungen des Krieges und den große politischen Umwälzungen ging es um den Aufbau einer neuen Gesellschaft, diese verlangte auch nach „neuen Menschen“, die durch demokratische Erziehung und Bildung geformt werden sollten.

Es ging um direkte Verbesserung,  Veränderung der Lebensumstände, des psychosozialen Umfeldes, der Erziehung, der Pädagogik, Aufklärung und Beratung in öffentlichen Einrichtungen. Die unmittelbare Hilfe, den Rat, die direkte Einflussnahme. Man förderte die Emanzipation der arbeitenden Klasse, der Frauen und eben auch der Kinder. Nicht die Methode, die Wissenschaft, die Theorie sondern das Ergebnis stand im Mittelpunkt.

Damit erklärte sich die Methodenvielfalt innerhalb der Individualpsychologie. Unter der Prämisse, dass wichtig sei, was hilft und die Verhältnisse bessert, vertragen sich verhaltenstherapeutische, gesprächstherapeutische und psychoanalytische Aspekte mit vielen anderen Ansätzen. So wird auch erklärbar, dass damals jemand, der sich z.B. auf pädagogisch - sozialpsychiatrischem Feld große Verdienste erworben hatte, ein prominentes Mitglied der IP werden konnte – auch ohne besondere Ausbildung  oder besondere Kenntnisse auf psychotherapeutischem Gebiet.

„Die Individualpsychologie erblickt ihre Aufgabe darin, dass ihre Lehren […] über die Grenze der Krankenbehandlung und der individuellen Erziehung hinaustreten, dass sie Prophylaxe werden und Weltanschauung. Im Banne des Kosmos, verhaftet auf dieser nicht überreichlich spendenden Erdkruste, verknüpft durch die Schwäche seines Organismus, noch mehr durch seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft in Sprache, Vernunft, Ethik, Ästhetik und Erotik, zwingt das Leben den Menschen zur Antwort auf zwangsläufig entwickelte Fragen. […] Sein Mut, sein Optimismus und seine trainierte Leistungsfähigkeit sind notwendige Antworten auf eine reale Not, die auch ein dauerndes Gefühl der Minderwertigkeit als wesentlichen Inhalt seines Seelenlebens unterhält.“

(Alfred Adler: Die Individualpsychologie, ihre Bedeutung für die Behandlung der Nervosität, für die Erziehung und für die Weltanschauung. Scientia, 1926.)“

Text und Redaktion: Christine Diercks, 14.6.2012