Eugen Bleuler (1914): Die Ambivalenz
Festgabe zur Einweihung der Neubauten der Universität Zürich 18. IV. 1914 (Festgabe der medizinischen Fakultät). Zürich: Schulthess & Co. 1914, 5. 95-106.
DIE AMBIVALENZ
Von Eugen Bleuler
Eine internierte Geisteskranke verlangt jahrelang mit viel Affekt und noch mehr Schimpfen, aus der Anstalt zu kommen; es nützt nichts, ihr täglich zu sagen, sie könne ja gehen, man habe ihr eine Unterkunft besorgt und bezahle ihr noch die Reise; man bringt sie nicht fort, aber auch nicht zum Schweigen.
Eine an der nämlichen Geisteskrankheit leidende Mutter hat ihr Kind vergiftet; aber nachträglich ist sie in Verzweiflung über ihre Tat; nur fällt auf, daß auch beim ärgsten Jammern und Weinen der Mund ganz deutlich lacht. Letzteres ist der Kranken unbewußt. Die erste Patientin aber weiß so gut wie irgend jemand, daß sie austreten kann, wann sie will, und sie weiß, daß es ihr in der Anstalt nicht gefällt, aber sie bringt beides nicht in logische Verbindung. Obgleich sie über beides im gleichen Zusammenhang sprechen kann, zieht sie weder den einen Schluß, daß sie gehen wolle, noch den andern, daß sie keinen Grund habe, zu schimpfen, wenn sie doch gehen könne. Es ist, wie wenn ihre Person zwischen den beiden zusammengehörigen Gedanken einen Riß hätte. Sie betont die Idee der Entlassung mit zweierlei Gefühlen; einerseits möchte sie gern wieder ihr eigener Meister sein; anderseits weiß sie sich in der Anstalt vor allen Schwierigkeiten des Lebens geschützt. Der Gesunde würde nun in bewußter Überlegung oder instinktiv die Vorteile und Nachteile gegeneinander abwägen und dann in der Richtung handeln, wo nach seiner subjektiven Wertung die Unannehmlichkeiten am geringsten und das Angenehme am größten ist. Die gespaltene Psyche der Kranken aber führt Buch über Aktiven und Passiven, vermag aber die beiden Wertungsreihen nicht zu einer einheitlichen Bilanz zu verdichten. Die Idee des Austritts
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bleibt von zwei widersprechenden, aber unverbunden nebeneinander existierenden Gefühlen betont; sie ist ambivalent.
Ganz gleich die Mutter, die ihr Kind getötet hat und nun trotz aller Verzweiflung mit dem Munde lacht. Sie hat das Kind nicht aus Versehen umgebracht, sondern nach langem Kampf. Sie mußte also einen Grund haben, das Kind zu töten. Sie liebt ihren Mann nicht, und das Kind dieses Mannes ist ihr ein Greuel; deshalb hat sie es getötet und lacht darüber; es ist aber auch ihr Kind, und deshalb liebt sie es und weint über seinen Tod.
In allen den nicht zu seltenen Fällen, wo eine analoge Dissoziation der Mimik untersucht werden kann, stößt man auf gleiche Zusammenhänge, ja man kann manchmal geradezu experimentieren, indem man durch Anschneiden eines solchen mit verschiedenen Gefühlen betonten Ideenkomplexes das Phänomen erscheinen und mit Änderung des Gesprächsthemas wieder verschwinden läßt. In gleichem Falle wie diese Kranke sind nun noch viele Frauen; bei der gesunden Mutter kommt aber dennoch ein Mord gar nicht in Betracht. Die Mutterliebe, der moralische Abscheu vor dem Verbrechen und eventuell die Vorstellung der Folgen lassen den Gedanken an einen Mord gar nicht zum Bewußtsein, vielleicht überhaupt nicht zur Entstehung kommen. Nur in Träumen, in unbewußten Handlungen und in gewissen Symptomen wie ganz sinnloser Ängstlichkeit um das Kind findet der eingehendere Beobachter Spuren der Ambivalenz.
Bei den jugendlichen Verblödungen, zu deren Natur die Spaltungen im Ideengang gehören, und die deshalb auch Schizophrenien, Spaltungsirresein, genannt worden sind, treffen wir alltäglich auf analoge Erscheinungen. Die Assoziationsstörung hebt nur gegensätzliche Gefühlsbetonungen der nämlichen Idee hervor und gibt uns einen Fingerzeig, auch an andern Orten nach ähnlichen Zuständen zu forschen. Wir finden denn auch überall bei andern Kranken wie bei Gesunden solche ambivalente Komplexe und können zugleich konstatieren, daß sie unsere Psyche ganz besonders beeinflussen.
Schon ein einfacher Reiz kann gleichzeitig angenehm und unangenehm sein, am deutlichsten auf dem Gebiete des Geschmackes und Geruches. Es gibt ferner eine Wonne des Leidens, des körper-
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lichen wie des geistigen. Wir sehen etwa, daß der Schmerz gesucht wird, indem man sich Verletzungen beibringt, sich brennt, ätzt oder auch, indem man Gründe sucht oder schafft, um sich operieren zu lassen. Wir können uns diese Ambivalenz des Schmerzes nur schwer vorstellen. Meistens wird es sich um sexuell wollüstige Mitempfindungen handeln, die unserem Verständnis schon näherliegen. Immerhin saugt auch der Gesunde gern an einem schmerzhaften Zahn herum, ohne daß wir das Motiv sicher kennten.
Viel häufiger treffen wir die Ambivalenz des psychischen Schmerzes, die Wonne des Martyriums, des Beleidigtseins. Es gibt ja genug Leute, die sich ihr ganzes Leben so einrichten, daß sie immer größeres oder kleineres Unrecht von andern zu erdulden haben. Natürlich kann man sich dabei bemitleiden lassen, sich wichtig und zugleich gerecht und besser fühlen als die andern, und jedenfalls spielen hier Nebenvorstellungen meist eine wichtige Rolle; aber die Häufigkeit und die Intensität des Symptoms wäre kaum verständlich, wenn nicht das Erleiden eines Unrechts bei diesen Personen direkt neben dem Schmerz auch Lust hervorbrächte.
Die gewöhnliche Wurzel ambivalenter Gefühlsregungen ist indessen entweder das Vorhandensein verschiedenwertiger Eigenschaften oder verschiedener Beziehungen beim nämlichen Dinge. Die Rosen haben ihre Dornen, und die Dornen haben ihren Nutzen. Man hätte gern warmes und trockenes Wetter für seinen Rheumatismus; im Hinblick aber auf den Gemüsegarten wünscht man Regen. Am wichtigsten ist das Bestehen dieser zwei Seiten im Verhältnis von Mann und Frau. Schon die Ehe als solche ist nicht ohne Schatten; man gibt seine Freiheit auf, seine ökonomische Unabhängigkeit, seine Freunde. Die speziellen persönlichen Verhältnisse sind auch bei der größten Verliebtheit nie oder nur vorübergehend mit ausschließlich positiven Gefühlen betont. Die Frau kann in körperlicher Hinsicht allen Wünschen entsprechen, in geistiger aber unzulänglich sein; ganz besonders häufig und wichtig ist eine Differenz in den eigentlich sexuell anregenden Eigenschaften einerseits und denen, die Achtung und Zärtlichkeit hervorrufen andererseits. Bei diesen Dingen allerhöchster psychischer Dignität kann auch der Gesunde nur selten das Fazit aus positiv und negativ ziehen; man bringt es weder zu einem Verzicht noch zu einem glücklichen Zu-
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sammenleben. Die beiden Tendenzen bleiben unvereinigt und unabgeglichen nebeneinander bestehen, ein Umstand, der wohl die häufigsten und schwersten Konflikte des Ehelebens und der Psyche überhaupt schafft.
Man denkt sich meist, daß die Gegensätze einander ausschließen und möglichst weit auseinander liegen. Das trifft aber nur zu in bezug auf eine oder wenige ihrer Eigenschaften, in bezug auf alle andern sind sie die engsten Verwandten.
Am selbstverständlichsten zeigt sich das auf intellektuellem Gebiete. Total verschiedene, einander fremde Dinge, ein Blitzableiter und ein See, können nicht wohl im Gegensatz zueinandergestellt werden, sondern nur Dinge und Begriffe, die der nämlichen Kategorie angehören, wie die Helligkeiten weiß und schwarz, die Landschaftsformen Berg und Tal; ja oft könnte der eine Gegensatzbegriff ohne den andern gar nicht existieren: ohne Helligkeit hätten wir keine Dunkelheit, ohne Kälte keine Wärme; solche Gegensätze sind nur verschiedene Seiten des nämlichen Dinges oder Begriffes. Nur innerhalb von Begriffsgruppen, die in irgendeiner Hinsicht zu einer Einheit vereinigt werden können, sind Gegensätze möglich, und in unserem Denken bilden Gegensatzpaare immer eine Einheit.
Zu „weiß“ werden die meisten Leute nicht nur wieder eine Farbe, sondern speziell „schwarz“ hinzudenken; wenn man „heiß“ sagt, denkt man nicht an schwarz und nicht an Millionen anderer Begriffe, sondern nur an ganz wenige, und unter diesen ist, wie das Assoziationsexperiment zeigt, „kalt“ wohl der nächstliegende. Das „Tütu“ (Türe zu) eines kleinen Kindes kann auch heißen: „macht die Türe auf“. In den ältern Sprachen finden sich solche Worte in Menge, die, wie das lateinische „altus“, die ganze Dimension in positiver und negativer Richtung bezeichnen. „Schlecht“ bezeichnete früher auch „gut“. (Vgl. Freud, Jahrbuch für Psychoanalyse II, „Über den Gegensinn der Urworte“.)
Bei kleinen Kindern sehen wir oft spielende Äußerungen von Urteilen, wobei es ganz gleichgültig ist, ob sie sie positiv oder negativ sagen; kurz, überall steht der Position die Negation sehr nahe, oft am nächsten.
Diese „intellektuelle Ambivalenz“ läßt sich natürlich von der affektiven nicht trennen; was positiv gedacht angenehme Gefühle
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erweckt, ist in der Verneinung von unangenehmen Affekten begleitet. Hat man ambivalente Gefühle gegenüber einer Sache oder einer Person, so liegt der Grund dazu in der Erkenntnis und dem Auseinanderhalten von Licht- und Schattenseiten, an die einzeln die entsprechenden Gefühle geknüpft werden.
Aber auch außerhalb dieses Zusammenhanges liegen auf rein affektivem Gebiete die Gegensätze einander besonders nahe. Ob man etwas überhaupt auf die Waage lege oder nicht, ist oft von mehr Bedeutung, als ob es leicht oder schwer befunden werde. In bezug auf die Kinder ist es sprichwörtlich, wie nahe ihnen Weinen und Lachen liegt, viel näher als eines von beiden der Gleichgültigkeit. Das nämliche sehen wir bei den Geisteskrankheiten. Allerdings wird der Melancholiker nicht leicht zur Fröhlichkeit zu bringen sein, aber wenn seine Krankheit abgelaufen ist, so sehen wir in der Regel, daß er nun eine Zeitlang lebenslustiger ist als vorher, auch wenn es sich nicht um das gerade für unser Thema wichtige manisch-depressive Irresein handelt, bei dem Anfälle von übertrieben gehobener Stimmung und melancholische Depressionen miteinander abwechseln; hier zeigt es sich, wie bei den Kindern und bei den stark sanguinischen Temperamenten und beim Altersblödsinn, daß das Wesentliche gar nicht die Schwankung nach der einen Richtung ist, sondern die Neigung zu Schwankungen überhaupt, deren Vorzeichen dann von Nebenumständen bestimmt wird, die wir beim manisch-depressiven Irresein nicht kennen, bei labilen Affektivitätsanlagen der gesunden und kranken Psyche aber leicht überblicken können. Ebenso bei der verwandten Suggestibilität. Bei den Hysterischen hat man darüber gestritten, ob sie besonders leicht oder besonders schwer suggestibel seien. Kinder, Sanguiniker, Altersblödsinnige sind je nach der Konstellation besonders suggestibel oder besonders eigensinnig.
Haß und Liebe können in der nämlichen Brust wohnen, nicht aber zusammen mit der Gleichgültigkeit. Der glühendste Haß entsteht aus Liebe. „Wo ein Weib haßt, da hat sie geliebt oder liebt sie oder wird sie lieben.“ Der bekannte Renegatenfanatismus ist in solchen Zusammenhängen begründet. Je fanatischer ein Atheist ist, um so mehr Gottesglauben hat er noch in sich selbst zu bekämpfen. Zwischen Saulus und Paulus besteht ebensowenig ein psychologi-
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scher Unterschied wie zwischen einem zu Tränen gerührten und einem fröhlichen Sanguiniker.
Man muß sich aber hüten, Gegensatzpaare und Ambivalenzen zu konstruieren, wo keine sind. Man spricht oft von Widersprüchen in einem Charakter; die Frauen gelten als wetterwendisch und als konservativ; die Schweizer sind nüchtern und festsüchtig. Dabei liegen Widersprüche nicht in den Sachverhalten, sondern nur in unseren Auffassungen. Wenn wir einen Altersblödsinnigen seine Mutter zuerst in begeisterten Ausdrücken als verehrungswürdige und fehlerlose Frau und gleich nachher als unwissenden und boshaften Menschen schildern hören, so erklärt sich das leicht daraus, daß der Kranke in einem bestimmten Moment nur eine einzige Klasse von Vorstellungen haben kann, das eine Mal nur die guten, das andere Mal nur die schlechten Eigenschaften der Mutter. Gegensätze sind es auch nicht, wenn ein „willensschwacher“ junger Mann je nach der Umgebung ein geordnetes und korrektes und dann wieder ein lockeres Leben führt. Beides ist Folge seines schwachen Charakters. Das Gute beweist nicht seine Tüchtigkeit, das Schlimme nicht eine besonders schlechte Neigung.
Von der Ambivalenz zu trennen sind auch alle die Kompensationen bewußter und unbewußter Gefühle irgendeiner Minderwertigkeit, die Gegensätze vortäuschen und in letzter Zeit namentlich von Adler in ihrer Bedeutung - vielleicht etwas zu stark - hervorgehoben worden sind. Die Phantasien des körperlich Schwächlichen drehen sich am leichtesten um den Begriff von Kraft, und wenn er an Schizophrenie erkrankt, so fühlt er sich leicht allmächtig. Der zu sensitive Nietzsche schuf den Übermenschen und wurde zum Gegner des übertriebenen Mitleids und des in seiner jetzigen Ausdehnung gefährlichen christlichen Schutzes der Schwachen.
Die normale Ambivalenz ist der psychische Ausdruck unserer Regulierungseinrichtungen überhaupt; die Muskelbewegungen werden durch ein Zusammenspiel von Agonisten und Antagonisten, die chemischen Prozesse durch eine unübersehbare Zahl von unter sich gegensätzlich wirkenden Substanzpaaren reguliert. Die psychischen Funktionen werden durch Hunger und Sättigungsgefühl resp. Ekel, durch Bewegungsdrang und Bequemlichkeit oder Faulheit, durch Suggestibilität und Eigensinn innerhalb der zuträglichen
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Schranken gehalten. Zum Überlegen ist vor allem notwendig, daß man das „Für und Wider“ erwägt, daher die Einrichtung, daß zu jedem neuen Gedanken ganz von selbst der Gegensatz auftritt, während normaliter alles, was dem aktuellen Thema ferne liegt, ausgeschlossen wird. Ebenso auf dem Gebiete des Strebens und Wollens, wo die Ambivalenz die spezielle Form der „Ambitendenz“ annimmt.
Kinder, denen man unerwartet etwas Gutes anbietet, nehmen es manchmal nicht an. Entgegengesetzte Triebrichtungen manifestieren sich häufig in der Reue nach einer Tat oder nach einem Entschluß. Es gibt viele Leute, die bewußt das ganze Leben hindurch Ruhe suchen, aber sich unbewußt ständig Situationen schaffen, die sie äußerlich und innerlich in Atem halten. Viele streben beim Heiraten nach einem bestimmten Typus, sind aber unglücklich, wenn sie ihr Ziel erreichen; oder sie heiraten aus dem Unbewußten heraus den Gegensatz von dem, was sie sich gewünscht hatten, oft zu ihrem Glück. Der Anfänger im Radfahren fährt oft mit Sicherheit auf die Hindernisse los, die er vermeiden möchte; der gebesserte Trinker, der sich auf einmal der Heilung rühmt, macht sich damit auf baldigen Rückfall verdächtig. Wenn Grund vorhanden ist, die Menstruation besonders zu ersehnen, so verspätet sie sich leicht. Manche Schüler haben gerade im Examen die schlechtesten Leistungen.
Eine besondere Erscheinungsform der Ambivalenz finden wir bei der Sexualität. Diese wird nicht nur durch positive Wollusttriebe und negative Tendenzen wie Scham und Ekel reguliert, sondern hier bilden die Hemmungen einen Bestandteil des positiven Triebes selber. Während sonst diejenigen Triebbefriedigungen gesucht werden, die am wenigsten Anstrengung kosten, dient hier das Widerstreben des Partners geradezu der Anlockung. Die Schamhaftigkeit des normalen Mädchens ist nicht nur von außen anerzogen, sondern die Sitte konnte sich deshalb bilden, weil die Schamhaftigkeit zum Sexualtrieb gehört. In allen Kulturen wird mit den verschiedensten Begründungen der Sexualtrieb verdrängt und unterdrückt durch eine Stufenleiter von Vorschriften, die von der Wertschätzung der Keuschheit durch das Zölibat bis zur Kastration gehen, welch letztere noch bei gewissen australischen Stämmen und
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bei russischen Sekten geübt wird. Wir sehen die Ambivalenz der Sexualität auch darin, daß diese schon normaliter mit Angst verbunden ist und daß sie unter krankhaften Umständen geradezu in der Form von Angst in die Erscheinung tritt. Nicht genug, daß man versucht, die Zeugung durch den Tod und den Tod durch die Zeugung zu erklären, die Gefühle, welche die Begriffe von Liebe und Tod begleiten, sind so ähnlich, daß der Tod als Symbol für Liebe gebraucht wird („nun sterb‘ ich doch den süßen Tod“, Ottegebe in Hauptmanns „Armer Heinrich“). Eine andere sexuelle Ambivalenzerscheinung ist die Verbindung von Schmerz und Wollust im Masochismus und Sadismus, Abnormitäten, die prinzipiell nichts Neues sind, sondern nur Tendenzen übertreiben, die im normalen Menschen stecken. Die Ambivalenz der Sexualität ist aber eine kulturgeschichtlich wichtige Erscheinung und zugleich einer der Gründe, warum viele Nerven- und Geisteskrankheiten so eng mit der Sexualität zusammenhängen.
Im Traum finden wir die Ambivalenz von großer Bedeutung. Sicher ist, daß der Traum sehr häufig Bezug nimmt auf innere Konflikte, also auf ambivalente Themen. Wer geneigt ist, die Freudschen Deutungen anzunehmen, muß die ambivalenten Ideen geradezu als die wesentliche Ursache der Träume oder doch ihres Inhaltes betrachten. Die Personen, die im Traume auftreten, sind sehr häufig von ganz klaren ambivalenten Gefühlen begleitet. Besonders deutlich und häufig tritt uns aber die Ambitendenz entgegen. Wenn ich im Traume denke: merkwürdig, daß das und das nicht erfolgt, so tritt es ausnahmslos ein - oder dann sein Gegenteil. Freuds „Darstellung von Ideen durch das Gegenteil“ mag in den Deutungen der Psychanalytiker etwa mißbraucht werden, aber ich halte es für bewiesen, daß sie häufig vorkommt. Der Begriff „Geheimnis“ oder das Auftauchen der Tendenz, etwas geheimzuhalten, wird, wie Freud darstellt, häufig durch das Auftreten einer Menge von Menschen bezeichnet.
Die Ambivalenz ist eine der wichtigsten Triebfedern der Dichtung und weist zugleich ihren gestaltenden Kräften den Weg. Der wahre Dichter schafft aus den ihn bewegenden Komplexen heraus, und diese sind ihrer Natur nach wohl immer ambivalent, da abgeschlossene Ideen uns kaum mehr lebhaft bewegen können. Goethe
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lebte im ‚Werther‘, im ‚Clavigo‘ und eigentlich in allen seinen Werken seine Konflikte aus, Schiller läßt die Helden, die sein Machtbedürfnis repräsentieren, alle zugrunde gehen, denn der Wille zur Macht ist nicht nur bei ihm praktisch nicht realisierbar, sondern er ist auch für ihn wie für andere gefährlich. Gottfried Keller zerlegt die von ihm heimlich geliebte Betty Tendering, den Gefühlen des Angezogenen und Abgestoßenen entsprechend, in die kokette Lydia in ‚Pankraz dem Schmoller‘ und in das idealisierte Dortchen Schönfund des ‚Grünen Heinrich‘.
Mit Traum und Dichtung sind Mythologie, Sagenbildung und Volksgebräuche innig verwandt. Wie des Dichters Gestalten sind auch eine Menge - vielleicht alle - mythologischen Wesen ambivalent, oder sie zerfallen in Gegensatzpaare. Der Sonnengott ist überall sowohl der Lebenspendende als der Sengende und Tötende; durch besondere Zunamen wird er häufig nach diesen Eigenschaften in mehrere Personen zerlegt. Gute und böse Mächte in der Einzahl und in der Mehrzahl sind bald in einer Person vereinigt, bald nach den Prinzipien, die sie vertreten, getrennt. Der Eine Allmächtige, der die guten und die bösen Schicksale in der Hand hat, zerfällt immer wieder in Gott und den Teufel. Die Liebesgöttinnen sind entsprechend der Ambivalenz der Sexualität zugleich Todesgöttinnen. Worte wie „Anathema“, „religio“, „sacre“ bezeichnen Heiligung und Verdammung. In dem Begriffe und dem so unendlich komplizierten Zeremoniell des Tabu liegt gleichermaßen das Heilige und das Unreine. Die Totemtiere sind für gewöhnlich gefeit, müssen aber bei gewissen Zeremonien geschlachtet und gegessen werden.
In besonders krasser Weise tritt die Ambivalenz im Totenkult der primitiven Völker hervor. Ist der Feind einmal totgeschlagen, so wird ihm große Ehrung zuteil mit dem Zweck, ihn zum unschädlichen Freunde zu machen; die Freunde aber fürchtet man, wenn sie tot sind; sie könnten wiederkommen, nachdem sie so liebenswürdig Platz und Eigentum hinterlassen haben; deshalb sorgt man eifrig für sie, damit es ihnen ja im Jenseits genügend gefalle - woneben die Freude über den Tod des Feindes und der Schmerz über den Hingang eines Lieben gleichwohl zu ihrem Rechte kommen.
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Interessant ist, wie sich der im höchsten Grade ambivalente Vaterkomplex in den Mythologien auslebt. Der Vater ist der, dem man das Leben zu verdanken hat und der uns lange Zeit erhält. Aber er ist auch derjenige, der am meisten Macht hat über uns, der beatus possidens der Güter, die wir haben möchten, der Konkurrent bei der Mutter, kurz in so vielen Beziehungen der Tyrann und zugleich der Rivale. So vernichten Uranus und Saturn ihre Kinder, die aber als Repräsentanten der Zukunft sich doch durchringen und ihren Vater kastrieren und entthronen.
Die „Nervenkrankheiten“ im vulgären Sinne, die „Psychoneurosen“, entstehen, wie immer klarer wird, meist durch das Zusammenwirken einer Disposition, die verschieden geartet sein kann, und einer oder mehrerer auslösender Ursachen, die zum größten Teil psychische Konflikte, also ambivalente Motive sind. Meistens allerdings ist der Zusammenhang ein komplizierter, bloß durch genauere Untersuchungen aufdeckbar. Dann und wann aber sehen wir auch da die Ambivalenz an der Oberfläche. Da ist ein kleines Mädchen, das in der Familie sich sehr hübsch benimmt, wie es soll, aber unter der Zucht der Eltern und namentlich einer Tante leidet. Nun bekommt es Zustände, in denen es seine ganze Vergangenheit vergessen hat und neue Relationen mit der Welt anknüpfen muß. In diesem Stadium wehrt sich das Kind gegen die Erziehung und spielt der Tante in Wort und Tat allerlei Schabernack. Gewiß hatte das brave Kind schon zur Zeit der Gesundheit allerlei Böses von denen gedacht, die es zu sehr erzogen, und der (unbewußte) Zweck der Krankheit war wohl gerade der, sich ihnen zu entziehen und an ihnen Rache zu nehmen.
Zwangsideen und Zwangshandlungen haben oft deutlich den Charakter des Ambivalenten, indem die Kranken z. B. gerade bei heiligen Handlungen gegenteilige häßliche Worte denken oder gar aussprechen müssen, und ähnliches.
Unter den Geisteskrankheiten ist es fast nur die Schizophrenie (Dementia praecox), deren Symptomatologie die Ambivalenzmechanismen benutzt, diese aber in so ausgiebigem Maße, daß man versucht ist, zu vermuten, es seien ausschließlich ambivalente Komplexe, die sich Zugang in die Wahngedanken verschaffen und eventuell sogar das Manifestwerden der Krankheit bedingen können.
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Die affektive Ambivalenz äußert sich in schwärmerischer Liebe und feurigem Haß gegenüber der nämlichen Person, nebeneinander, durcheinander. Eine Kranke kann stundenlang verbigerieren: Du Engel, du Teufel, du Engel, du Teufel, und dabei die nämliche Person meinen. Der oder die Geliebte wird in den schizophrenen Wahnideen regelmäßig auch zum Verfolger. Seltener ist es, daß der ursprüngliche Verfolger nachher zum geliebten Beschützer wird. Bei der Ausbildung der Verfolgungswahnideen wirkt die Wonne am Schmerz und an der Verfolgung deutlich mit. Entschlüsse werden durch Gegenentschlüsse im Entstehen oder an der Ausführung verhindert; gar oft zerstören die Kranken eine Arbeit, die sie eben fertiggemacht haben. In den Halluzinationen werden wunschgemäß diejenigen, die im Wege sind, umgebracht; aber darüber sind die Kranken untröstlich und verzweifelt. Neben der affektiven Ambivalenz und der Ambitendenz kommt hier die intellektuelle Ambivalenz oft ganz kraß zum Vorschein. Die Leute drücken eine Idee durch das Gegenteil aus; sie sagen „schön“, wo sie sagen wollen „häßlich“, oder sie denken den Begriff „häßlich“, wo der Begriff „schön“ richtig wäre. Sie zerlegen einerseits einfache Dinge in zwei Gegensätze, also die eine Person in den Geliebten und den Feind, und verschmelzen anderseits Gegensätze in eines: Ein Kranker, der nach Hause strebt, wollte seiner Frau einen freundlichen Brief beantworten; statt dessen schrieb er ihr einen Abschiedsbrief. Zur Rede gestellt, meint er: «Dire bonjour ou dire adieu, c’est la même Chose.» Oft verlieren die Kranken auf kürzere oder längere Zeit vollständig das Gefühl für positiv und negativ. Sie sind reich und sind arm; sie sind in der Anstalt und sind nicht in der Anstalt, so daß man oft gar nicht herausbringen kann, was sie eigentlich meinen. Oder sie sagen etwas Liebes mit der Betonung, wie wenn sie einen Schimpf sagen würden; Handlung und Gedankengang sind dann bald die logische Folge des Schimpfens, bald die der Artigkeit. Auch in dem, was zu ihnen gesagt wird, sehen sie oft das Vorzeichen nicht. Besonders bei Dingen, die auf ihre Wahnideen Bezug haben, ist es oft ganz gleich, ob man etwas positiv oder negativ sagt; sie nehmen die Worte nicht so, wie sie gesagt sind, sondern so, wie sie ihnen passen. Da glaubt eine Frau, ihr Mann sei in der Anstalt eingesperrt. Wenn ich ihr sage, er sei nicht
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eingesperrt, so ist das für sie ganz gleichbedeutend, wie wenn ich ihr sage, er sei es. So wird auch die Bedeutung der Worte oft ganz systematisch verkehrt wie im Traum: „Gift“ kann „Speise“ bedeuten, „Lohn“ „Strafe“ usw.
Intellektuell und affektiv ambivalent sind auch oft die unaufhörlichen Stimmen, die die Kranken plagen. Haben sie sich entschlossen, irgend etwas zu tun, so wird ihnen gesagt, das sei das Unrichtige; wollen sie den Stimmen folgen, so ist es wieder nicht recht. Sie sagen ihnen, die Frau sei gestorben, und gleich darauf, sie sei nicht gestorben. Einer unserer Kranken nannte solche Stimmen bezeichnend „Plus- und Minus-Stimmen“. Manchmal werden die guten und die bösen Stimmen verschiedenen Personen zugeschrieben oder auf die beiden Ohren verteilt; manchmal sind es Dämonen, welche vom Patienten Besitz genommen haben und ihn nach entgegengesetzten Seiten reißen. Der Dämonismus ist eine Personifikation der Ambitendenz.
Fassen wir zusammen: „Ambivalenz“ bezeichnet zunächst eine doppelte Wertung, die naturgemäß meist eine gegensätzliche ist. Die Wertung kann eine affektive oder eine intellektuelle sein, d. h. eine Idee kann mit positiven oder mit negativen Gefühlen betont oder sie kann positiv oder negativ gedacht werden. Affektive und intellektuelle Ambivalenz sind also zwei sehr verschiedene Dinge. Sie haben aber so viel Berührungen miteinander und gehen so ineinander über, daß es mir besser schien, aus beiden einen Begriff zu machen mit zwei Unterabteilungen. Die Ambitendenz ist nur die eine Seite der affektiven Ambivalenz.
Der Begriff der Ambivalenz hat auch in seiner Begrenzung eine Unklarheit. Er ist geschaffen worden zur Heraushebung der Eigenschaften der Schizophrenen, einesteils nebeneinander mit zweierlei Affekten auf die gleiche Idee zu reagieren, und anderseits die nämliche Idee positiv und negativ zu denken. Das letztere ist wohl bei Erwachsenen immer krankhaft und speziell schizophren; bei Kindern kommt es auch unter normalen Verhältnissen vor. Die affektive Ambivalenz aber findet sich prinzipiell gleich, nur graduell abgeschwächt, auch bei Gesunden und geht ohne jede Grenze über in die Erscheinung, daß eine Menge von Erfahrungen und Begriffen
in einer Hinsicht angenehm, in einer anderen unangenehm sind. In
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den extremen Fällen wird bei der pathologischen Ambivalenz, der Ambivalenz im strikteren Sinne, kein Fazit gezogen (ein Mensch wird zugleich geliebt und gehaßt; der Anstaltsaufenthalt wird als Schutz betrachtet und zugleich als Gefangenschaft); bei der normalen Ambivalenz aber wird das Positive und das Negative meist zu einer affektiven Wertung verschmolzen, wobei eines das andere abschwächt oder überkompensiert; eine Person wird wegen ihrer Vorzüge geliebt, aber wegen ihrer Mängel weniger geliebt, als wenn sie nicht da wären; oder sie wird wegen ihrer unangenehmen Eigenschaften gehaßt oder sonst negativ gewertet, aber weniger stark, als wenn sie keine guten Eigenschaften hätte. Dies unbeschadet der Erfahrung, daß Liebe gern in Haß umschlägt oder daß sie nach der Ausdrucksweise Freuds einen Beitrag an die Energie des sie übertönenden Hasses geben kann.
Der Übergänge wegen habe ich auch hier keine Grenze gemacht, die ja doch recht willkürlich wäre. Es genügt vorläufig, zu wissen, daß es eine gewöhnliche, selbstverständliche Ambivalenz gibt, die in den Beziehungen zum nämlichen Objekt angenehmes und unangenehmes konstatiert, aber beides mehr oder weniger zu einer einheitlichen Wertung verbindet, und daneben eine andere, die sich dadurch auszeichnet, daß zwei Wertungen nebeneinander bestehenbleiben. Die letztere kommt auch etwa bei Normalen vor, bedeutet aber, wenn sie sich auf wichtige Dinge bezieht, eine Erschwerung des Lebens und führt oft direkt zu Neurosen; sie findet ferner ihren Ausdruck im autistischen Denken des Traumes, der Dichtung, der Mythologie und in religiösen Vorstellungen und Gebräuchen; am ausgesprochensten aber treffen wir sie bei der Schizophrenie.
Quelle: http://www.sgipt.org/medppp/gesch/ambiv-g.htm
Redaktion: CD 23.2.2012