André Green - Nachrufe

Nachruf:

André Green, Gestalter der Zukunft.

Bernard Chervet, Präsident der Pariser psychoanalytischen Gesellschaft
Übersetzung: Miriam Hamidi (Wien)

„Große Menschen gibt es verschiedene: Manche pflegen die Tradition, andere beleben sie und geben ihr Gestalt, verleihen ihr Impulse; andere wiederum erfüllen sie mit ihrer Leidenschaft, erneuern und stärken sie, übersetzen sie in neue Sprachen, sind ihr Inspiration und verleihen ihr neue Kraft und Energie.
André Green verkörperte all das. Er stellte sich in den Dienst der Psychoanalyse mit seiner ganzen Größe, seinem erstaunlichen Gedächtnis, seinem unstillbaren Wissensdurst, seinem Weitblick, seinem oft verblüffenden Willen, Verbindungen und Annäherungen herzustellen, der Vitalität seines sich ständig weiterentwickelnden Denkens; seiner Redegewandtheit, seiner sanften Strenge,  seiner Überlegtheit, seiner Urteilskraft, seiner Leidenschaft; seinem Kampfgeist und seiner Umsicht; seiner Fähigkeit, Wege in die Zukunft zu eröffnen, ohne den Erkenntnissen der Vergangenheit den Rücken zu kehren.
Auf diese Weise wurde er zu einem der wichtigsten Denker der zeitgenössischen Psychoanalyse.
Die Themen, mit denen er sich auseinandersetzte, sind unermesslich, und seine Arbeiten finden in allen kulturellen Bereichen Anerkennung.
Als ausgebildeter Psychiater machte er sich die große humanistische Tradition der Renaissance sowie die Verständlichkeitsforschung der Aufklärung zu eigen. Er fand diese Eigenschaften im klinischen Denken Freuds und der Psychoanalyse wieder, der Wissenschaft des Unbewussten im Dienste des Menschen und des ihn Verzerrenden.  Auf diese Weise trat er in einen direkten Dialog mit Henri Ey und später mit Lacan, Winnicott und Bion, aber auch mit allen bedeutenden Psychoanalytikern weltweit.
Seine Arbeiten wurden wesentliche Referenzen, insbesondere seine Vorstöße zum Verständnis der „Grenzfälle“.
Sein gigantisches Werk wurde in über zehn Sprachen übersetzt. Es umfasst  mehr als 30 Bücher und zahlreiche Artikel, Vorträge und Interviews. Zusätzlich zu den zwei Werken, an denen er zuletzt gearbeitet hat und die er nun posthum der Nachwelt hinterlässt. Seine Schriften stellen ein bleibendes und maßgebendes Oeuvre dar.
Wir verdanken André Green zahlreiche gängig gewordene Begriffe wie „den Komplex der toten Mutter“, die Desobjektalisierung, die Tertiärprozesse, die Drittheit,  Lebens- und Todesnarzissmus, wichtige Arbeiten zum Affekt, zur Repräsentanz, zur Sprache, zu den destruktiven Kräften, zum „Bösen“, zur Rolle von Objekt und Trieb, zur Sexualität; sowie auch die Einführung des „Negativen“ in den Bereich der Psychoanalyse. Zusätzlich ist auch sein originärer Ansatz zur mütterlichen Funktion und zur rahmengebenden Struktur, als Matrix des Denkens in Verbindung mit der negativen Halluzination der Mutter,  zu erwähnen.
Dadurch wurde André Green zu einem der Hauptakteure der internationalen psychoanalytischen Bewegung. Er wurde zu Konferenzen und Supervisionen in Europa, Latein- und Nordamerika eingeladen und präsentierte seine Arbeiten auf Kongressen der IPV und der EPF sowie auf dem Kongress der Psychoanalytiker französischer Sprache.
In den letzten Jahren wurde er einer der einflussreichsten Autoren in Lateinamerika. Seine Arbeiten sind mittlerweile Bestandteil der Studienpläne zahlreicher Ausbildungsinstitute für Psychoanalyse und psychoanalytische Behandlung auf der ganzen Welt.
Seine ungeheure Bildung findet in der Anzahl an Büchern und Artikeln Ausdruck, die er der angewandten Psychoanalyse widmete, mit seinen Studien zur griechischen Tragödie und hochrangigen Künstlern wie etwa Leonardo da Vinci, Shakespeare, Conrad, Borges, James usw. Es war immer ein Genuss, ja eine ästhetische Erfahrung, seinen Vorträgen und Supervisionen beizuwohnen.
Er forderte viel von sich selbst, stellte stets die höchsten Ansprüche, und erwartete das auch von seinen Kollegen, was teilweise als exzessiv empfunden werden konnte. Aus Leidenschaft für die Analyse und durch seinen tiefgehenden Kontakt mit dem Unbewussten stellte er sich und seine Ideen auf diese Weise mit ganzer Kraft dar.
Zu den zahlreichen Würdigungen, die er von der psychoanalytischen Gemeinschaft erhielt, gehört auch der wichtigste Preis der IPV, The outstanding scientific achievement award, der ihm am Kongress der IPV in Berlin 2007 überreicht wurde. Das waren für alle Teilnehmer Momente großer Emotion. Die Erinnerung an seine Worte der Hoffnung für die Zukunft der Psychoanalyse sowie die Ovationen, die ihm zuteilwurden, stellen  uns heute vor einen schmerzhaften Kontrast.
Die internationale psychoanalytische Gemeinschaft trauert.
Und wenn sich das Schweigen aufdrängt, ist es André Green selbst, ein Mann der Sprache und Psychoanalytiker der Worte, der uns daran erinnert, dass gerade, wenn sich der Affekt als Schmerz äußert, die Worte fehlen.“

Nachruf:

The Societe Psychoanalytique de Paris announcement of the death of Andre Green

International Psychoanalyses
Translated by Jonathan House

„A major figure in psychoanalysis has left us. The psychoanalytic community is in mourning.
A psychiatrist by training, Andre Green became one of the major thinkers in contemporary psychoanalysis. He was in direct dialogue with Lacan, Winnicott, Bion, and with all the influential psychoanalysts worldwide. He is particularly influential in advancing the understanding of “borderline” conditions.
His work is marked by the extensive scale and scope of the fields he studied and to which he contributed, it covered all of the culture is known and respected and well beyond the world of psychoanalysis.
We owe him much if not all of our familiarity with concepts such as “the dead mother complex,” the de-objectalisazation, thirdness, and more from his important work on affect, language, the forces of destructiveness, “evil”, the role of the object, the drive and sexuality, and his introduction of “negative”. To this list must be added his original approach to the maternal function and his notion of the relation of the structure framing the matrix of thought to the negative hallucination of the mother.
His work, translated into many languages, includes a large number of books and articles that have become classics in psychoanalytic thought.“
Quelle: http://internationalpsychoanalysis.net/2012/01/24/the-societe-psychanaly... (2.2.2012)

Nachruf:
Psychosozial-Verlag

André Green ist gestorben

„Der bekannte französische Psychoanalytiker André Green ist am 22. Januar 2012 verstorben. André Green, der am 12. März 1927 in Kairo geboren wurde, emigrierte 1946 nach Paris, studierte dort Medizin und spezialisierte sich anschließend in Psychiatrie. Nach seiner Tätigkeit an verschiedenen Krankenhäusern und der Ausbildung zum Psychoanalytiker wurde er 1965 Mitglied der Pariser Psychoanalytischen Gesellschaft und war von 1986–89 deren Vorsitzender. 1975–77 war er stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und 1979–80 Professor am University College London.
André Green gilt als der produktivste Psychoanalytiker Frankreichs, er ist Verfasser zahlreicher Aufsätze und Bücher zu Theorie und Praxis der Psychoanalyse sowie psychoanalytischer Kultur- und Literaturkritik, von denen einige auch in deutscher Übersetzung vorliegen.“
Quelle: http://web.psychosozial-verlag.de/psychosozial/index.php?parent=30&sub=y... (2.2.2012)

Redaktion: CD, 2012