James Glover 1882-1926 (Nachruf von Ernest Jones)
Nachruf
James Glover
1882–1926
Kurz auf die Nachricht vom Tode Karl Abrahams folgt die vom Hinscheiden eines seiner hervorragendsten Schüler. Unsere Gefühle bei diesem zweiten Verlust können eigentlich nur die wieder erwecken, die wir bei dem ersten empfanden; denn zwischen diesen beiden Männern bestanden zahlreiche Ähnlichkeiten und Verbindungen – jenseits jenes Verhältnisses von Lehrer und Schüler, in dem sie zueinander standen. Der Verlust Glovers wird in mancher Hinsicht von seinen Kollegen, wenn auch von einem kleineren Kreise, ebenso stark und heftig empfunden werden wie der Abrahams; auch bedeutet sein Tod einen ebenso schweren Rückschlag für die Entwicklung der Psychoanalyse, denn gewiß hätte er in ihr eine wichtige Rolle gespielt, wenn er länger zu leben gehabt hätte.
James Glover wurde geboren zu Lesmahagow in Lanarkshire am 15. Juli 1882 und starb in der Nähe von Barcelona am 25. August 1926. Sein Vater, ein Landschulmeister, stammte aus dem schottischen Unterland, und Glover erbte offenbar von ihm zwei seiner hervorragendsten Eigenschaften: einen selten scharfen Intellekt und eine bescheidene Zurückhaltung. Er hatte zwei jüngere Brüder, aber keine Schwester. Als Kind war er scheu, zurückhaltend und mit starker Phantasie begabt; er hatte einen starken Hang zum Schreiben und veröffentlichte eine kurze Geschichte schon im Alter von 14 Jahren. Er durchlief seine Schul- und Studienjahre in glänzender Weise und erhielt den Grad des M. B. und Ch. B. an der Universität Glasgow schon mit 21 Jahren.
Schon zu dieser Zeit war seine Gesundheit nicht zufriedenstellend; nachdem er versucht hatte, sich als praktischer Arzt niederzulassen, wurde er dazu bewogen, einige lange Seereisen zu unternehmen. Eine Zeitlang praktizierte er in Brasilien, wo er eine starke Befähigung für Chirurgie und tropische Medizin zeigte, aber seine Mußestunden waren ausschließlich der Lektüre und dem Schreiben von „Short Stories“ gewidmet, die großes psychologisches Interesse hatten. Die wohltuende Wirkung des Klimawechsels wurde alsbald durch einen Anfall von Malaria und Dysenterie wieder zunichte gemacht; letztere legte den Grund zu jener Krankheit, der er schließlich erlag. Nach zehn Jahren dieser Lebensführung schwand seine Gesundheit 1913 endgültig dahin, Anzeichen eines schweren Diabetes traten auf und im nächsten Jahr hielt man sein Leben während mehrerer Monate schon für verloren. Jedoch setzte eine langsame Besserung ein und nach einiger Zeit war er wieder imstande, sich leichter Beschäftigung zu widmen. Er wurde Assistenzarzt am Cheltenham-Hospital für Augen-, Ohr- und Halskrankheiten, ein Posten,
der ihm genügend freie Zeit ließ, um sich seinen psychologischen und anthropologischen Studien zu widmen. Seine frühere intensive Beschäftigung mit philosophischen Problemen, die aus seinen Studententagen herrührte, erfuhr nun eine Umformung in ein psychologisches Interesse. Ein Brief aus dieser Zeit an den „Lancet“ (eine Antwort an Dr. Mercier) zeigt, daß er schon damals für die Lehren Freuds eintrat. Sein nächstes Ziel war, in London mit der praktischen psychologischen Arbeit in Berührung zu kommen, und um dieses Vorhaben zu fördern, machte er sich seine früheren Erfahrungen mit der Tuberkulose zunutze und erlangte die Stellung eines Assistant Tuberculosis Officer am Royal Chest Hospital. Von dem Augenblick seiner Ankunft in London an begann er, die Gelegenheiten, auf dem Gebiete der klinischen Psychologie zu arbeiten, in Erfahrung zu
bringen und trat 1918 dem Stab der neugegründeten Medical Psychological Clinic am Brunswick Square bei. Hier fand Glover seinen wahren Beruf. Seine ernsthafte und gründliche philosophische Schulung, seine große Belesenheit, sein Skeptizismus, sein Natur und Wissenschaft in gleicher Weise umfassender Überblick und vor allem die Kraft seines psychologischen Tiefblicks, all das fand seinen rechten Ausdruck in der klinischen Psychologie. Er unternahm alsbald eine Art von Analyse, zusammen mit Dr. Jessie Murray, die damals das Haupt und die tatsächliche Begründerin dieser Institution war, aber schon nach kurzer Zeit wurde er von einer wachsenden Unzufriedenheit mit der pseudo-analytischen Arbeit, wie sie dort im Schwange war, erfüllt. Noch während Dr. Murrays verhängnisvollen Krankheit, besonders aber kurz darauf, wurde er, da er zum Mitdirektor gemacht worden war, bald der Hauptverantwortliche für die Arbeit an der Klinik. Er beteiligte sich stets an allen verschiedenen Tätigkeitsgebieten der Klinik, wie an der Ausbildung von Studenten, an Vorlesungen an der angegliederten „Orthopsychic Society“, an Plänen für die Weiterbildung der „Hostel Patients“, die in den der Klinik angegliederten Instituten lebten, weiterhin an täglichen Konsultationen und an praktischer therapeutischer Arbeit. 1920 war er alleiniger Direktor der Klinik und Medical Superintendant der übrigen Institute.
Seine wachsende Erfahrung führte ihn sehr schnell zu dem Schluß, daß die Freudsche Methode, sich psycho-pathologischen Problemen zu nähern, die einzige war, die auf wissenschaftlichen Prinzipien aufgebaut war; und der entscheidende Wendepunkt trat ein, als er im September 1920 als Gast am Internationalen Kongreß für Psychoanalyse im Haag teilnahm. Dr. Murray wurde nach ihrem Tode durch Miß Turner ersetzt und ihre Rückkehr ermöglichte es ihm, im Dezember desselben Jahres nach Berlin zu gehen, um bei Dr. Karl Abraham seine Analyse zu beginnen. Bei seiner Rückkehr, Ostern 1921 (die Analyse wurde im folgenden Jahre wieder aufgenommen), nahm er seine Pflichten als Direktor der Klinik wieder auf, aber seine Überzeugung, daß diese Arbeit unbefriedigend sei, war nun sowohl bei der Heranbildung von Schülern wie bei der Behandlung gewaltig gewachsen. Er stand einer Arbeit gegenüber, die einem Mann von seiner sensitiven Natur äußerst widersprechend war und die ihn in starken Gegensatz zu seinen Kollegen stellte, denen er so viel schuldete: er musste versuchen, eine Institution aufzulösen, für die er in so loyaler Weise gearbeitet hatte. Er schreckte vor dieser Aufgabe nicht zurück, vielmehr vollführte er sie mit einem so wunderbaren Zartgefühl, daß er keine verletzten Gefühle zurückließ. Eine sorgfältige Erforschung der Kräfte und Möglichkeiten der Klinik, zusammen mit einer Besprechung mit dem Vorstand der British Psycho-Analytical Society, zeigte ihm, daß es keine Möglichkeit gab, die Klinik auf adäquaten Grundlinien von neuem aufzubauen, und so lenkte er seine Bestrebungen dahin, sie bei geeigneter Zeit durch eine psychoanalytische Klinik zu ersetzen. Er sollte es gerade noch erleben, daß dieses Ziel, das ihm so viel bedeutete, erreicht wurde. Sein erster Schritt war, die Arbeit an der Brunswick Square Clinic zum Stillstand zu bringen, indem er sich weigerte, irgendeine andere Behandlung als eine echte psychoanalytische nach Freudschen Grundsätzen vorzuschreiben. Die Mitglieder des Exekutivkomitees unterstützten schließlich seine Bestrebungen, und das Resultat war, daß die Klinik geschlossen wurde. Bei einer Anzahl von Versammlungen, die dieser Entscheidung vorangingen, zeigten sich Glovers außerordentliche Qualitäten von ihrer besten Seite. Er hatte die größte Hochachtung für die enthusiastische Arbeit und für die Motive der Begründer; und er behandelte die letzteren stets mit Geduld und Höflichkeit, aber er zeigte auf der anderen Seite eine stählerne Entschlossenheit, die durch keinerlei Erwägungen oder Vorhaltungen beiseite geschoben werden konnte. Es war ein bezeichnender Triumph, daß er dieses Institut auflösen konnte, ohne irgendeinem seiner Mitglieder damit zu nahe zu treten.
James Glover wurde im Juni 1921 zum Associate Member der British Psycho- Analytical Society gewählt, wurde im Oktober 1922 ordentliches Mitglied und wurde im Oktober 1924 in den Vorstand berufen. Kurz nach ihm trat auch sein Bruder, Dr. Edward Glover, der Gesellschaft bei, den er als einen würdigen Erben seiner Wirksamkeit zurückgelassen hat. James Glover war durchaus die Hauptstütze der Gesellschaft in all ihren Funktionen. Durch seine Beiträge, besonders bei den Diskussionen, brachte er unfehlbar in jeden dunklen Fall Licht, indem er sich eng an die klinischen Tatsachen seiner wachsenden Erfahrung hielt. Sein gesundes Urteil war ebenso unschätzbar in Hinsicht auf das, was man die externe Politik der Gesellschaft nennen könnte, wie sein Takt es in Hinsicht auf die interne war. Er spielte eine wichtige Rolle bei der Ausbildung junger Analytiker und war hervorragend in der Vorlesungsarbeit, die damals die Gesellschaft zu organisieren begonnen hatte. In den ersten Monaten des Jahres 1924 gab er einen Kursus von Vorlesungen über die Theorie der Psychoanalyse und in den ersten Monaten dieses Jahres einen weiteren über die Psychopathologie der Angstzustände; es ist wahrscheinlich, daß dieser letzte Kursus in Buchform veröffentlicht werden wird. Seine Vorlesungen waren durch die bemerkenswerte Klarheit der Darstellung und durch den Reichtum des Inhaltes charakterisiert. Sie waren immer eher für Fortgeschrittene angelegt, denn Glover hatte noch nicht die Erfahrung, die nötig ist, um sich dem Geiste jüngerer Studenten anzupassen. Er hatte eine ausgezeichnete Vortragsweise, und wenige von denen, die seine Präsidentenrede in der Britischen Psychologischen Gesellschaft hörten, werden die starke Eindringlichkeit vergessen, mit der er die Fundamente der praktischen Psychopathologie erklärte. Glovers Qualitäten zeigten sich vielleicht am besten in der Debatte, zu der er häufig Gelegenheit hatte. Die unerbittliche Geschwindigkeit, mit der er sich auf einen Trugschluß in den Argumenten des Gegners stürzte, war ebenso charakteristisch wie seine vornehme Überzeugungskraft, mit der er plädierte, um jenem die Irrtümlichkeit seines Weges nachzuweisen.
Als das Institut für Psychoanalyse, zu dessen Direktorenstab er gehörte, gegründet wurde, wurde Glover während der Abwesenheit Dr. Rickmans mit der heiklen Aufgabe betraut, die International Psycho-Analytical Library auf den gegenwärtigen Verleger, die Hogarth Press, zu übertragen, und er vollendete diese Arbeit mit Geschick und kundiger Hand. Auch spielte er eine tätige Rolle bei der Einrichtung der Londoner Klinik für Psychoanalyse, für die die Vorbereitungen im Monat seines Todes eben beendet worden waren. Ihm wurde der Posten des Assistent-Direktors der Klinik zuerteilt und er sah dieser Arbeit, an der teilzunehmen es ihm nicht mehr vergönnt war, mit den höchsten Erwartungen entgegen.
Auch in der Medical Section der British Psychological Society spielte er eine hervorragende Rolle. Er nahm tätigen Anteil an den Diskussionen, wirkte im Komitee während dreier Jahre mit und war zur Zeit seines Todes Vorsitzender der Sektion.
Über James Glovers literarische Beiträge zur Psychoanalyse ist leider nicht sehr viel zu sagen, denn sie stehen in einem traurigen Mißverhältnis zu dem, was er offenbar hätte leisten können. Der Grund dafür ist zweifellos darin zu suchen, daß er immer zögerte, mehr zu veröffentlichen, als er gezwungen war zu tun, ehe sein wählerisches Wesen befriedigt werden konnte und man ihn überzeugt hatte, daß seine Erfahrung groß genug sei, um dem, was er zu sagen hatte, ein angemessenes Gewicht zu verleihen. Es wäre für die Wissenschaft gut, wenn andere Schriftsteller mehr ähnliche Skrupel in dieser Hinsicht hätten, obgleich das wie besonders in diesem Fall einen Verlust wertvoller Beiträge bedeuten könnte. Man kann sagen, daß er spontan von sich aus nicht eine einzige Schrift veröffentlichte, seine ganze Produktion (4 Schriften) wurde nur unter der direkten Überredung oder sogar unter dem Druck von seiten des Referenten veröffentlicht. Wie man aus der beigegebenen Bibliographie ersehen mag, waren die meisten seiner Beiträge in Form von Aufsätzen und Reden abgefaßt, die er auf Verlangen in verschiedenen Gesellschaften hielt. Glücklicherweise sind die Manuskripte verschiedener dieser Reden erhalten, und es ist zu hoffen, daß es möglich sein wird, einige von ihnen nachträglich zu veröffentlichen. Ein Anfang in dieser Richtung ist mit seiner Schrift „Notes on an Unusual Form of Perversion“ gemacht worden.
Da es keinen besonderen Sinn oder Zweck hätte, hier einen ausführlichen Auszug aus den Veröffentlichungen zu machen, die so leicht zugänglich sind, soll einiges über die Hauptpunkte gesagt werden, die Glovers gesamte psychologische Beiträge, auch die unveröffentlicht gebliebenen hinzugezählt, charakterisieren. Viele der Qualitäten, die einen Meister der Exposition ausmachen, waren in ihm in einem hohen Maße entwickelt. Die beiden hervorragendsten waren vielleicht seine Klarheit und seine Fruchtbarkeit in Beispielen. Er besaß eine unübertreffliche Klarheit des Gedankens, verbunden mit einer machtvollen Eindringlichkeit; er schreckte niemals vor der Verwickeltheit einer bis ins Feinste ausgearbeiteten Überstruktur zurück und drang rasch zu den Grundlagen des zu behandelnden Gegenstandes vor. Sein Geschick in der Erklärung durch Beispiele ist auf seine reiche Phantasie zurückzuführen, der eine große Anzahl von Metaphern zur Verfügung stand, und auf die gewandte Geschwindigkeit, mit der sein Geist arbeitete, und die außerordentliche Schärfe seiner Beobachtungsgabe. Er belebte seine Beispiele oft durch einen freundlichen und eigenartigen ironischen Humor.
Obgleich Glover allen möglichen Aspekten der psychoanalytischen Arbeit sehr lebendig gegenüberstand, war er doch in erster Linie Arzt, und zwar einer ersten Ranges. Die einzigen Gebiete der angewandten Psychoanalyse, zu denen er beträchtliche Beiträge lieferte, waren die der Erziehung und der Bestrafung (sowohl individuell als auch juristisch.) Er war besonders interessiert in der Analyse der Reaktionsbildungen, des Hasses und des Sadismus, in der Analyse des Ichs und des Über-Ichs. In seiner ganzen Arbeit zeigt sich die besondere Art eines biologischen wie auch allgemein naturwissenschaftlichen Standpunktes, der vielleicht typisch englisch genannt werden kann; seine frühere philosophische Betätigung war also vollkommen umgewandelt worden.
Wie es oft mit genialen Menschen geschieht, deren Ausdrucksmöglichkeit in der Hauptsache auf dem Felde der persönlichen Beziehungen gelegen hat, so ist es auch hier nicht leicht, jenen, die seine Natur nicht kannten, James Glovers schillernden und verwickelten Charakter im ganzen klar zu übermitteln. Denn er war zweifellos genial, und die Tragödie ist nur, daß sein Genie eben fruchtbar werden und seinen höchsten Ausdruck finden wollte in dem Augenblick, als es plötzlich und für immer verlöschte.
Bis zu dem Moment, als er auf die Psychoanalyse stieß, waren seine Interessen, obgleich scharf und eindeutig, doch sehr unsystematisch. Von Natur war er ein unsteter Wanderer mit dem Herzen eines Seemanns, der am glücklichsten ist, wenn er über Länder und Meere ziehen kann. Mit einem lebendigen Sinn für das Komische oder gar Groteske verband er ein stetiges Interesse für die Narrheiten und Sonderbarkeiten desLebens; die Seitenwege der menschlichen Natur zogen ihn mehr an als die herkömmlichen Pfade. Aber seine Einstellung war die einer objektiven Neugierde. Er warunfähig, harte und scharfe Urteile auszusprechen, und begegnete den menschlichen Schwächen und Gebrechen immer mit Zartheit. Am mildesten und feinsten behandelte er die, die am stärksten mit einem intensiven Minderwertigkeitsgefühl beladen waren. In seiner Gegenwart fühlte jeder die Meisterschaft, die er in bezug auf psychologische Kenntnisse und Einblicke erlangt hatte, aber niemand hatte, wenn er ihn verließ, das Gefühl des Kontrastes zwischen Meisterschaft und Halbnissen. Es fiel ihm nie ein, seine Überlegenheit dazu zu gebrauchen, anderen zu imponieren, oder sie zu verwirren. Er hatte nichts von einem Moralreformer und sehr wenig von einem Propagandisten an sich.
Einmal sagte er lachend, daß seine erste Frage an einen werdenden Analytiker gewesen sei, ob es sein Verlangen sei, die Menschen zu ändern, und wenn ja, daß dann die Psychoanalyse nichts für ihn sei. Dies ist ein tiefer Ausspruch und wert, daß man über ihn nachdenke. Gewiß ist ein Mann, dessen Einstellung eine wohlwollende, jedoch unersättliche Neugier ist, besser für die psychoanalytische Arbeit geeignet als einer, der sich wie ein Mesmer oder Calvin gebärdet.
Seine intellektuellen Überzeugungen standen unverrückbar fest, aber er ging aus jeder Schlacht wegen irgendeiner zu debattierenden Frage als ein Mann hervor, dessen Leidenschaft, der Wahrheit zu Hilfe zu kommen, von persönlichen Emotionen befreit ist. Die einzigartige Klarheit seines Geistes, die keineswegs selbstsüchtige Suche nach der Wahrheit, die Freiheit von emotionellen Reaktionen machten ihn für das Sprechen vor der Öffentlichkeit besonders geeignet. Diese Qualitäten traten besonders stark hervor in der Rolle, die er in der psychoanalytischen Bewegung spielte; seine persönliche Zurückhaltung und Bescheidenheit standen in schroffem Gegensatz zu dem glühenden Wunsche, die Arbeit auf irgend einem Wege, der seinen Kräften angemessen war, vorwärts zu bringen. Selbstsüchtiger Ehrgeiz war seiner Natur offensichtlich fremd und in unserem ganzen engen Verhältnis habe ich niemals eine Spur eines Konfliktes bemerkt zwischen persönlichen Interessen und den objektiven Bestrebungen unserer gemeinsamen Arbeit.
An der Seite dieses halb verborgenen wissenschaftlichen Verhaltens ging ein ungewöhnlicher Reichtum des inneren emotionellen Lebens. Glover war ein Mann von außerordentlicher Sensibilität mit einer vorzüglichen poetischen Einbildungskraft, Eigenschaften, die einen besonders feinen Ausdruck in den Versen fanden, die er von Zeit zu Zeit schrieb. Sogar sein wissenschaftliches Denken war auffallend reich an lebhafter Illustration. Diese Sensibilität und diese Kraft der Imagination sind vielleicht gar geeignet seine bestrickende Kraft der Auffassung, persönlich wie auch intellektuell, zu erklären.
Eine Unterhaltung mit James Glover war in ihrer Weichheit einer Gondelfahrt ähnlich, Gedanken wurden sofort ohne ein Zeichen der mindesten Reibung erfaßt und begriffen, ohne die Mißverständnisse, die Notwendigkeit näherer Erklärung und ähnliches, die meistens jeden persönlichen Verkehr charakterisieren. Diese besonders hohe geistige Auffassungskraft war in anderen geistigen Prozessen ebenso hervorragend. Er konnte den Kern eines Buches in kürzester Zeit herausziehen, seinen Inhalt durch und durch erfassen und ihn jederzeit kraft seines außergewöhnlich sicheren Gedächtnisses zur Verfügung halten.
Zwei besondere Qualitäten machten daher den Intellekt aus, der vielleicht der Hauptanziehungspunkt der Persönlichkeit Glovers gewesen ist. Auf der einen Seite war seine Fähigkeit für unpersönliches, aber intensives Interesse besonders psychologischen Problemen gegenüber. Seine angeborene schottische praktische Klugheit, seine skeptische Einstellung und seine kühle kritische Kraft, die in einem strengen philosophischen Studium geschult worden war, vereinigten sich zu einer ungewöhnlichen Schärfe des Urteils. Auf der anderen Seite gaben ihm seine sensitive Einbildungskraft und sein intuitiver Scharfsinn eine Kraft des psychologischen Tiefblickes von seltenster Art.
Diese Qualitäten konnten nicht besser als auf dem Gebiete der Psychoanalyse zusammentreffen, und es ist nicht verwunderlich, daß er gleichzeitig ein überragender Künstler in der Technik der psychoanalytischen Arbeit und ein Meister ihrer Theorie wurde. Ein abstruses psychologisches Problem mit ihm zu diskutieren war ein ästhetisches Vergnügen. Man kann seinen Intellekt nur mit bildlichen Wendungen umschreiben: Leuchtend und strahlend wie ein Diamant, kompakt wie Stahl, scharf wie ein Degen, mit einer Beweglichkeit von der Schnelle eines Adlers. Man trifft im Leben nur wenige solcher Geister. Es ist erstaunlich, daß ein so freier und in seinen Funktionen so geschmeidiger Geist doch schwere, ungelöste Konflikte in sich tragen konnte, von denen unzweifelhafte Anzeichen existierten, auch war es nicht weniger erstaunlich, daß jemand in so wenigen Jahren eine solch umfassende und gründliche Kenntnis der gesamten Theorie und Praxis der Psychoanalyse erlangen konnte, wie es bei Glover ohne Frage der Fall war; die Antwort auf diese Rätsel, die im Grunde genommen nur eines sind, würde uns mancherlei über die Natur dessen lehren, was wir Genie nennen.
Es besteht kaum ein Zweifel, daß, wenn James Glover noch weitere zehn Jahre gelebt hätte, er eine der hervorragendsten Erscheinungen in der Geschichte der Psycho- Pathologie geworden wäre, wie er innerhalb der Psychoanalyse auf dem Wege war, es zu werden; er hätte unschätzbare originale Beiträge zu unserer Kenntnis über diesen Gegenstand beigesteuert und den Umfang dieser Wissenschaft weitgehend vergrößert. Durch seinen frühzeitigen Tod erleidet die psychoanalytische Wissenschaft einen unschätzbaren Verlust.
Ernest Jones
(FN 1) Ich möchte Herrn Dr. Edward Glover und Miß Sharpe für die Hilfe danken, die sie bei der Vorbereitung dieser Gedenkschrift geleistet haben. – E. J.
Veröffentlichungen und Vorträge von James Glover (†):
IJPsA = International Journal of Psycho-Analysis
BPsAS = Britlsh Psycho-Analytical Society
BJMPs = British Journal of Medical Psychology
MSBPsS = Medical Section of the British Psychological Society
1) Punishment. Vortrag in der Howard Penal Reform League am 12. Dezember 1919. Veröffentlicht in dem Penal League’s Record im Juni 1920.
2) An Unconscious Factor in Sex Antagonism. Vortrag in der British Society for the study of Sex Psychology am 28. März 1922.
3) Notes on the Psychopathology of Suicide. Vortrag in der BPsAS am 3. Mai 1922. (Auszug des Autors im IJPsA, Bd. III, S. 507/8.)
4) The Common Sense of Psycho-Analysis. Vortrag in der Cheltenham Education Society am 9. März 1923.
5) The Psycho-Analysis of Hate and Sadism. Vortrag in der MSBPsS am 27. Juni 1923.
6) Man the Individual. Vortrag im Rahmen der Sociological Society im Oktober 1923. Veröffentlicht als Kap. 2 der „Social Aspects of Psycho-Analysis“. (Herausg. von E. Jones) 1924.
7) Notes of a case in which a patient produced a wealth of hallucinatory material, which proved to be a form of resistance. Mitgeteilt in der BPsAS am 2. Januar 1924. Veröffentlicht im IJPsA, Bd. V, S. 504/5.
8) Recent Advances in the Relation of Psycho-Analysis to Education. Vortrag in der Teacher’s Conference im Rahmen der Educational Section of the British Psychological Society am 22. Januar 1924.
9) A Note on the Female Castration Complex. Mitgeteilt in der BPsAS am 19. März 1924.
10) Abstract and Criticism of Rank’s book: „Das Trauma der Geburt“ (zusammen mit Dr. E.
Glover). Mitgeteilt in der BPsAS am 2. April 1924.
11) Notes on an Unusual Form of Perversion. Vortrag auf dem VIII. Internat. PsAKongreß in Salzburg, den 21. April 1924. Auszug des Autors in IJPsA, Bd. V, S. 392. Erweitert in IJPsA, Bd. VIII, S. 10.
12) Psycho-Analysis and Education. Vortrag in der Headmasters‘ Association, Eastbourne am 21. März 1925.
13) The Conception of Sexuality. Vortrag in der MSBPsS am 25. März 1925. Veröffentlicht im BJMPs, Bd V, S. 175–188 u. 196–207.
14) The Child in Utopia. Vortrag in der Child Study Society, Cambridge, am 8. Mai 1925.
15) Biological Lies. Vortrag in der Heretics Society, Cambridge, am 10. Mai 1925.
16) Nature of the Cultural Barriers against Sexuality. Vortrag in der British Society for the Study of Sex Psychology am 14. Mai 1925.
17) Child Analysis. Vortrag im Eastbourne College im Juli 1925.
18) Freud and his Critics. Veröffentlicht in „Nation and the Athenaeum“ am 31. Oktober und am 14. November 1925.
19) Divergent Tendencies in Psychotherapy. Präsidentenrede in der MSBPsS am 17. Dezember 1925. Veröffentlicht im BJMPs, Bd. VI, S. 93–109.
20) The Conception of the Ego. Veröffentlicht im IJPsA, Bd. VII, S. 414–419, und in der Int. Zschr. für PsA. Bd. XII, S. 286–291.
Quelle:
Jones, Ernest (1927): James Glover - Nachruf. IZP, XIII, 1927, 234-241.
Redaktion: CD, 2011