Christine Diercks (2009): Wilhelm Reich und das therapeutisch-technische Seminar

Einleitung

Sexualität, Politik und Psychoanalyse waren die Themen, über die auch ich in den 1970er-Jahren als Studentin erstmals auf Wilhelm Reich aufmerksam geworden bin. Meine Verbundenheit mit Reich aber hat mit seiner Rolle im Ambulatorium der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zu tun, in dem Reich als junger Analytiker ein erstes therapeutisch-technisches Seminar initiierte, das er bald selber leitete. Denkt man an Reich, werden seine genuin psychoanalytischen Leistungen meist nur kursorisch gestreift, in psychoanalytischen Ausbildungscurricula und in aktuellen Fachpublikationen findet er kaum Erwähnung. Das ist bemerkenswert, war er doch in seiner Zeit in Wien als Kliniker, Theoretiker und Lehrer einer der einflussreichsten Pioniere der Psychoanalyse.

Aus den Anfängen des Ambulatoriums und des technischen Seminars

Reich inskribierte nach dem Krieg Medizin und kam über das Seminar für Sexuologie, zu dem Otto Fenichel für den 1. Februar 1919 (1) (Fallend, 2002, 31) eingeladen hatte, mit der Psychoanalyse in Berührung. Am 22. Februar 1920 war Reich erstmals Gast bei einer Sitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung; schon am 13. Oktober hielt er seine Antrittsvorlesung: „Der Libidokonflikt in Peer Gynt“ (Reich, 1942, 43 f.) und wurde als Mitglied aufgenommen. Bereits im September 1919 findet sich in seinem Tagebuch die Eintragung: „Erste Analyse“ (Reich, 1994, 124). Mit seiner zweiten Patientin begann er eine Affäre, und seine vierte Patientin (Fallend, 2002) – die Medizinstudentin Annie Pink war bei ihm ein halbes Jahr in Analyse – heiratete er 1922. In diesem Jahr schloss er auch das Medizinstudium ab.
Man war damals experimentierfreudig, voller Aufbruchstimmung und schnell mittendrin. Erst in der von ihm 1920 gegründeten Berliner Poliklinik entwickelte Eitingon ein Ausbildungsmodell, das internationaler Standard wurde. Mit dem 1922 in Wien eröffneten Ambulatorium stand bald auch in Wien nicht nur eine Behandlungsmöglichkeit für Mittellose, sondern auch eine Ausbildungseinrichtung zur Verfügung. Reich arbeitete dort seit 1922 mit – ab 1923 (Archiv Sigmund Freud House, London) als erster Assistent, später als stellvertretender Direktor. Er beschreibt plastisch, wie es jungen Psychoanalytikern damals erging:

„Jeder war auf sich selbst angewiesen. Ich ging oft zu den älteren Kollegen, um mir Rat zu holen. Es war spärlich, was sie sagten: ‚Analysieren Sie nur geduldig weiter‘, hieß es, ‚es wird schon werden!‘ Wie und was werden sollte, wusste man nicht recht. Das schwierigste war, mit gehemmten oder gar schweigenden Patienten weiterzukommen. Diejenigen, die später dazukamen, haben dieses ‚Schwimmen‘ im Technischen nie so trostlos erlebt. Wenn ein Patient keine Assoziationen brachte, keine Träume ‚haben wollte‘ oder nichts dazu zu sagen wusste, saß man stundenlang ohnmächtig da. Die Technik der Widerstandsanalyse war zwar theoretisch begründet, doch nicht praktisch geübt. Ich wusste, dass die Hemmungen Widerstände gegen die Aufdeckung unbewusster Inhalte bedeuteten, auch dass ich sie beseitigen musste, doch wie? Sagte man ‚Sie haben einen Widerstand!‘, so sah einen der Patient verständnislos an. Es war ja auch keine sehr intelligente Auskunft. Sagte man ihm, er ‚wehre sich gegen sein Unbewusstes‘, war’s nicht besser. […] Und die Auskunft der Analytiker lautete immer wieder: ‚Analysieren Sie nur ruhig weiter.‘ […] Ich ging zu Freud. Freud verstand es großartig, den Knoten einer komplizierten Situation theoretisch zu lösen. Technisch war es unbefriedigend.“ (Reich, 1942, 44 f.)

In Wien standen damals wohl alle Analytiker theoretisch fest auf dem Boden des Freud’schen Diktums von Übertragungs- und Widerstandsanalyse. Bei der praktischen Umsetzung und bei der Weitergabe der klinischen Erfahrung stieß man aber auf große Schwierigkeiten. Rufen wir uns in Erinnerung, was in der Psychoanalyse zu Beginn der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts Standard gewesen ist: Die großen Krankengeschichten Freuds waren geschrieben. Auch wenn Freud seine Ankündigung (1910, 105), eine „Allgemeine Methodik der Psychoanalyse“ zu verfassen, nie eingelöst hat, so waren doch in seinen verschiedenen Schriften zu diesem Thema die wesentlichsten technischen Grundsätze entwickelt: Bei den „Studien über Hysterie“ (1895) seiner ersten Patientinnen konzentrierte sich Freud noch ganz auf das Verstehen und die Heilung hysterischer Symptome: Die ihnen zugrundeliegenden psychodynamischen Vorgänge erklärte er sich als die Folge eines traumatischen Ereignisses, das mangels einer adäquaten Abfuhr zu eingeklemmten – unbewussten – Affekten geführt hatte. Für die therapeutische Wirksamkeit dieser Vorgangsweise entscheidend waren dabei das Wiedererleben und das Abreagieren der dazugehörigen Affekte. Bei Freud  in „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (1914) finden wir zumindest das Ziel unverändert: Deskriptiv betrachtet gehe es weiter um das Ausfüllen der Lücken der Erinnerung, aber dynamisch konzentrierte man sich jetzt auf die Überwindung der Verdrängungswiderstände. Nicht mehr das direkte Bewusstmachen des Verdrängten unter Umgehung der Widerstände, sondern das gezielte Deuten der hervortretenden Widerstände war die eigentliche analytische Arbeit. Allerdings erinnern sich die Patienten zunächst nicht, sondern agieren und wiederholen. Sie wiederholen in der Übertragung, die die stärkste Form des Widerstandes darstellt, wie Freud 1912 in „Zur Dynamik der Übertragung“ ausführt. Und der Kampf zwischen Erkennen und Agierenwollen spielt sich fast ausschließlich auf dem Felde der Übertragung ab. Als technisches Hilfsmittel bediente man sich längst nicht mehr der Hypnose. Sie wurde abgelöst von den Prinzipien der freien Assoziation der Patienten und der gleichschwebende Aufmerksamkeit des Analytikers. Dieser „soll dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen, wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist“ (Freud, 1912e, 381). Reich klagt:
„1920 glaubte man, durchschnittliche Neurosen in etwa drei bis höchstens sechs Monaten ‚heilen‘ zu können. Freud schickte mir Kranke mit dem Vermerk, ‚Zur Psychoanalyse, Impotenz, drei Monate‘. Ich quälte mich ab. Draußen tobten die Suggesteure und Psychiater gegen die ‚Verderbtheit‘ der Psychoanalyse. Man lebte von der Arbeit. Man war von ihrer Korrektheit tief überzeugt. Jeder Fall zeigte, wie unheimlich recht Freud hatte. Und die älteren Kollegen sagten immerzu: ‚Analysieren Sie nur geduldig weiter!‘“ (Reich, 1942, 46)

Charakteranalyse

Wie alle seine jungen Kollegen also in großen technischen Nöten, regte der umtriebige Reich (1942, 51–53) die Gründung eines technischen Seminars (2) an, das zuerst von Hitschmann und Nunberg und von 1924 bis 1930 dann von ihm selbst geleitet wurde. Wie Reich in seinem Vorwort zur ersten Auflage der „Charakteranalyse“ (Reich, 1933, 9 f.) anführte, entstammten seine technisch-therapeutischen Ausführungen und die Auffassung des Charakters als Gesamtformation überwiegend den Erfahrungen und Diskussionen im Seminar. Man besprach dort Analysen von Patienten aus dem Ambulatorium, die aus ärmeren Bevölkerungsschichten stammten und oft nicht die klassischen neurotischen Störungen aufwiesen. Reich nennt asoziale, im Ich ganz infantil gebliebene, ungehemmte Triebmenschen (Reich, 1925, 251). Sie waren oft nicht krankheitseinsichtig, konnten die Grundregel nicht befolgen, die Herstellung einer positiven Übertragung war schwierig, das Prinzip der freien Assoziation führte zur Produktion von Inhalten und Symboliken ohne die dazugehörigen Affekte. Heute würde man die meisten von ihnen wohl als Borderline-Störungen qualifizieren.
Reich (1933, 65) suchte nach strukturellen Modellen und technischen Wegen, auch mit diesen Patienten erfolgreich psychoanalytisch zu arbeiten, und begann, deren gesamtes Verhalten – also den Charakter insgesamt – als Abwehr zu verstehen und systematisch zum Gegenstand der Analyse zu machen. Er behandelte den Charakter insgesamt als Widerstand und ging damit noch einen Schritt weiter als die zeitgenössischen Autoren in ihren Überlegungen zur Charakterbildung. Er führte diese zum Charakter geschmiedeten Formen der Reaktionen des Ich ebenso auf kindliche Erlebnisse zurück wie Symptome und Fantasien.

„Ökonomisch dient sowohl der Charakter im gewöhnlichen Leben als auch der Charakterwiderstand in der Analyse der Vermeidung von Unlust, der Herstellung und Aufrechterhaltung des psychischen (wenn auch neurotischen) Gleichgewichts und schließlich der Aufzehrung verdrängter oder der Verdrängung entgangener Triebqualitäten. Bindung frei flottierender Angst oder, was dasselbe von anderer Seite betrachtet bedeutet, Erledigung gestauter psychischer Energie ist eine seiner kardinalen Funktionen.“ (Reich, 1933, 64)

Reichs Auffassung nach wurde die Grundlage der Symptomneurose immer von einem neurotischen Charakter(3) gebildet.  Also hat man in jeder Analyse mit charakterneurotischen Widerständen zu tun (Reich, 1933, 58). Einmal produziert ein neurotischer Charakter auch noch umschriebene Symptome, ein andermal ist die Charakterbildung selbst ausreichend für die Entlastung von der Libidostauung. Das Symptom ist von seiner Herkunft her viel einfacher gebaut als ein Charakterzug, aber je tiefer man ein Symptom analysiert, desto mehr trifft man auf seine charakterologische Grundlage. Damit war bei Reich die Unterscheidung zwischen Symptomneurose und Charakterneurose weitgehend aufgehoben. Als behandlungstechnische Konsequenz lernte er demzufolge, dem Charakterwiderstand – neben Träumen, Fehlhandlungen, Einfällen und den übrigen Mitteilungen – in allen Analysen systematisch Beachtung zu schenken (Reich, 1933, 65 ff.):
„Die Art des Patienten zu sprechen, den Analytiker anzusehen und zu begrüßen, auf dem Sofa zu liegen, der Tonfall der Stimme, das Maß an konventioneller Höflichkeit, das eingehalten wird, und so weiter, sind wertvolle Anhaltspunkte für die Beurteilung der geheimen Widerstände, die der Patient der Grundregel entgegensetzt, und ihr Verständnis ist das wichtigste Mittel, sie durch Deutung zu beseitigen.“ (Reich, 1933, 61) (4)

Die wesentlichsten seiner behandlungstechnischen Anätze hatte Reich (5) schon im Juni 1926 unter dem Titel „Zur Technik der Deutung und der Widerstandsanalyse“ im technischen Seminar des Ambulatoriums vorgetragen (Reich, 1927; 1933, 38). Ratschläge und Ansichten, wie das oder jenes „analysiert werden“ müsse, oder man müsse „halt richtig analysieren“, dies seien Geschmacksangelegenheiten, aber keine technischen Grundsätze, polterte Reich (1933, 27) gegen seine Kollegen. Im technischen Seminar unter seiner Leitung suchte man die technischen Grundsätze klarer zu fassen und sich noch bewusster gewisser direktiver Eingriffe zu enthalten.
Reich (ebd., 92) monierte, dass bei Analytikern der Widerstand trotz besseren theoretischen Wissens oft etwas Unwillkommenes sei, daher stamme die Neigung, den Widerstand zu umgehen, anstatt ihn sich entfalten zu lassen und dann anzugreifen. Immer wieder aber werde vergessen, dass im Widerstand die Neurose selbst enthalten ist, man also mit jedem Widerstand auch ein Stück Neurose zur Auflösung bringt.
Jeder Widerstand hat – ebenso wie der Traum – eine historische und eine aktuelle Bedeutung. Zum unbewussten Material, das durch die Widerstände verborgen bleibt, gelangte Reich (ebd., 45) nun, indem er die aktuelle Situation – heute würde man vielleicht sagen: „Szene“ –, ihr Entstehen und ihre Dynamik direkt in der Stunde beobachtete. Aus der Form des Widerstandes erriet er dessen aktuellen Sinn und Zweck und beeinflusste ihn durch Deutung so weit, bis das Infantile zum Vorschein kam.
Allerdings warnte Reich davor, den Inhalt des Widerstandes zu bearbeiten, ohne den entsprechenden Affekt miterfasst zu haben (ebd., 92). Man solle nicht den Widerstand schon im Keime ersticken, sondern ihn im Gegenteil im Feuer der Übertragungssituation lebendig machen, zur vollen Entfaltung gelangen lassen. Chronischen Charakterverkrustungen könne man gar nicht anders beikommen. Reich (ebd., 56 ff.) wandte sich entschieden gegen die von Nunberg (1932) vorgeschlagene Technik, durch direkte Erziehung zur Analyse, durch Belehrung, Beruhigung, Aufforderung oder Ermahnung die Unfähigkeit zur Befolgung der Grundregel anzugehen. Geht man dagegen der Frage nach, welchen aktuellen Sinn das Benehmen des Kranken hat, warum er zweifelt, zu spät kommt, hochtrabend spricht, nur jeden dritten Gedanken ausspricht, die Analyse kritisiert, dann kann man vielleicht verstehen, warum sich der Patient so benimmt – weil er z.B. auf diese Weise vor dem Analytiker ein Minderwertigkeitsgefühl kompensiert. Erst aus diesem Verständnis heraus kann man aber das Verhalten – durch die konsequente Deutung seines Sinnes – beeinflussen.
Weiters mahnte Reich, nicht im Vertrauen auf die Dauer der Behandlung Trost zu suchen (ebd., 27): Die Zeit allein schafft es nicht. Dem Analytiker fällt in Widerstandsperioden die schwierige Aufgabe zu, den Gang der Analyse selbst zu lenken (ebd., 54). Der Patient hat die Führung nur in widerstandsfreien Phasen. Grundsätzlich könne man in der Analyse der Widerstände nicht früh genug eingreifen, in der Sinndeutung des Unbewussten nicht zurückhaltend genug sein (ebd., 55).
Unermüdlich wies Reich immer wieder darauf hin: Grundsätzlich ist keine Sinndeutung zu geben, wenn eine Widerstandsdeutung notwendig ist. Denn „wie“ ein Patient etwas sagt, ist mindestens ebenso wichtig wie der Inhalt des Gesagten (ebd., 45). warnte insbesondere vor unsystematischen Sinndeutungen (ebd., 42): Oft komme es dadurch es zu einer – wie er es nennt – „chaotischen Situation“: Der Analytiker hat viel gedeutet, kennt sich aber in der Fülle des zutage geförderten Materials und der heterogenen Übertragungen nicht mehr aus. Der Patient hat trotz der Fülle des Materials keine Überzeugung von dessen Bedeutung gewonnen. Alles steht im Dienste seines geheimen Widerstandes. Gefährlich werden solche „chaotische“ Analysen dadurch, dass man lange glaubt, sie gingen sehr gut, nur weil der Patient Material bringt. Bis man – meist zu spät – erkennt, dass sich der Prozess im Kreis dreht.
Umgekehrt hörte Reich Analytiker oft klagen, der Patient bringe kein „Material“ (ebd., 61 f.). Darunter wird gewöhnlich nur der Inhalt der Einfälle und Mitteilungen verstanden. Aber die Art des Schweigens oder der sterilen Wiederholungen etwa ist ebenfalls „Material“, das auszuwerten ist. Für Reich gab es wohl kaum eine Situation, in der der Patient „kein Material“ brächte, und ihm zufolge liegt es am Analytiker, wenn er das Verhalten des Analysierten nicht als „Material“ auswerten kann. Dass auch das Benehmen und die Form der Mitteilungen analytische Bedeutung haben, war damals ja nichts Neues. Aber seine Erfahrungen lehrten Reich, dass es zunächst immer auf die Form, dann erst auf den Inhalt ankommt.
Eine der hartnäckigsten Schwierigkeiten für Reich war das Übersehen der negativen Übertragung (ebd., 41): Im technischen Seminar legte er das höchste Augenmerk auf die negative Übertragung – besonders auf die latente. Das Übersehen der negativen Übertragung schien Reich bald nicht mehr ein persönlicher blinder Fleck zu sein, sondern ein allgemeines Vorkommnis, das sich auch in der analytischen Literatur widerspiegelte: Denn dort fand er, wenn von Übertragung gesprochen wurde, in den meisten Fällen nur die positive gemeint. Und wieder kritisierte er Nunberg (1932), der in seiner „Allgemeinen Neurosenlehre“ dazu riet, die Widerstände nicht direkt anzugehen, sondern die positive Übertragung dagegen zu mobilisieren,
„indem sich der Analytiker in das Ich des Patienten einschleicht, um dort die Zerstörung der Widerstände in Angriff zu nehmen. Dadurch entstünde, meint Nunberg, eine ähnliche Beziehung wie zwischen Hypnotisiertem und Hypnotiseur. Da der Analytiker nun im Ich mit Libido umgeben wird, neutralisiert er gewissermaßen die Strengen des Über-Ichs selbst. Dadurch werde der Analytiker prädestiniert, die Versöhnung der entzweiten Teile der neurotischen Persönlichkeit herbeizuführen“ (Reich 1933, 35).

Das hieße nichts anderes, als dass sich der Analytiker als positives Objekt anbieten sollte. Reich (ebd., 35 f.) hielt diese Auffassung für gefährlich, denn am Beginn gibt es für ihn keine tragfähige, echte positive Übertragung. Es handelte sich immer um narzisstische Einstellungen, kindliche Anlehnungsbedürftigkeit, die rasch in Hass umschlagen könnten. Die Widerstände würden dadurch nur maskiert, nach Enttäuschungen stellte sich der alte Zustand sofort wieder ein, und schließlich würde durch solch ein Vorgehen seiner Erfahrung nach die schwerste, unüberblickbare negative Übertragung erzielt. „Der charakterliche Panzer ist der formierte, in der psychischen Struktur chronisch konkretisierte Ausdruck narzisstischer Abwehr“ (ebd., 63).
Reich (ebd., 129) stimmte mit Freud darin überein, dass die positive Übertragung (6) das Hauptvehikel der Behandlung sei. Aber die Patienten seien – eben wegen ihres neurotischen Charakters – anfangs nicht fähig zur echten positiven Übertragung, worunter Reich eine starke, nichtambivalente, erotische Objektstrebung verstand, die die Grundlage einer intensiven, den Stürmen der Analyse trotzenden Beziehung zum Analytiker bilden könnte. Was anfangs aussehe wie eine positive Übertragung, sei in Wirklichkeit entweder eine reaktive positive Übertragung – die Patienten kompensieren einen übertragenen Hass in Form von Liebe – oder eine Hingegebenheit an den Analytiker, die einem Schuldgefühl entspricht, einem moralischen Masochismus, oder der narzisstische Hoffnung, dass der Analytiker den Patienten liebe, tröste oder bewundere (ebd., 131).

Würdigung Reichs

Reichs Technik der Widerstandsdeutung in Verbindung mit einem erweiterten Übertragungsbegriff und der Konzentration auf die Bearbeitung der negativen Übertragung und die Entwicklung der Charakteranalyse wurde damals auch von Analytikern anerkannt, die seine Genitaltheorie und seine politischen Vorstellungen, seine Radikalisierung (7) (Burian, 1972; Fallend, 2002) nicht akzeptierten. Seine Leistungen waren auch Ergebnis jahrelanger Arbeit mit therapeutisch schwer zugänglichen Patienten, die ihr Leid nicht sprachlich mitteilen konnten, sondern sich eher über Sprachlosigkeit, durch ihr Verhalten und auf somatischer Ebene ausdrückten.
Die Falldiskussionen im technischen Seminar verschafften Reich einige Berühmtheit. Insbesondere amerikanische Kandidaten – sie waren damals ein wichtiger Macht- und Wirtschaftsfaktor – besuchten nicht nur die Seminare, sondern machten in manchen Fällen auch die Lehranalyse bei Reich. Die meisten Seminarteilnehmer waren von seiner Person fasziniert. Reichs Vitalität und Enthusiasmus trieben die ganze Gruppe an. Man konnte sich ihm nicht entziehen. Für die meisten Psychoanalytiker wurde die Charakteranalyse, wie sie damals im Seminar vorgetragen wurde, ein bedeutender Teil ihrer Arbeit (Burian, 1972). Richard Sterb berichtet uns: Reich „hatte eine ungewöhnliche Begabung, sich in das seelische Kräftespiel in Patienten einzufühlen. Seine klinische Erfassung, seine technische Geschicklichkeit, vereint mit der Begabung, sich sprachlich plastisch auszudrücken, machten ihn zu einem vorzüglichen Lehrer. Unter seiner Leitung wurde das technische Seminar zu einer so hervorragenden Stätte des Lernens, dass selbst ältere Mitglieder regelmäßig daran teilnahmen. […] Meiner Meinung nach sind die […] Schriften Reichs aus dieser Zeit eine der Grundlagen für Anna Freuds opus magnum ‚Das Ich und die Abwehrmechanismen‘“ (Sterba, 1982).

Aber Sterba (1982, 89 ff.), der Mitte der 1920er-Jahre mit den Reichs eng befreundet gewesen war, beschreibt ihn auch als zunehmend rigide in der Einforderung seiner technischen Regeln und der systematischen Widerstandsanalyse, was von vielen als verfolgend erlebt wurde. Seine Orgasmustheorie und seine politischen Ansichten vertrat er immer rabiater. Mehr und mehr widersprachen ihm Kandidaten und Mitglieder der Vereinigung, was Reich wiederum verbittert hätte und ihn noch kämpferischer werden ließ. Seine Freunde waren besorgt und überredeten ihn sogar, wieder in Analyse (8) zu gehen.

Das weitere Schicksal des Seminars

Das Interesse am technischen Seminar war nach der Übersiedelung Reichs nach Berlin 1930 drastisch zurückgegangen. Ohne ihn hatte es seine Bedeutung als kreatives Zentrum des Lernens und der Weiterentwicklung der psychoanalytischen Behandlungstechnik verloren. Im Korrespondenzblatt der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse kündigt Grete Bibring 1932 an: „Das Wiener Seminar über die analytische Kur wird nach und nach die beiden großen Themen der zwanziger Jahre aufgeben – Widerstand und Übertragung – und sich mit anderen Problemen befassen.“ Chronische Rivalitäten zwischen der Führung des Lehrinstituts und der des Ambulatoriums waren 1934 der aktuelle Anlass, das Seminar einzustellen. Es wurde von einem technischen Seminar abgelöst, das man im Rahmen des Lehrinstitutes führte. (9)
1938 wurde das Ambulatorium – wie alle anderen psychoanalytischen Einrichtungen in Wien auch – liquidiert. Erst 1999 konnte es wiedereröffnet werden. Nun findet jeden Mittwoch wieder eine Fallkonferenz statt.

Diskussion

Reich verstand seine Arbeit als konsequente Anwendung der Freud’schen Widerstandstechnik (10) auf die Charakteranalyse – von der Symptomanalyse zur Analyse der Gesamtpersönlichkeit (Reich, 1933, 28 f.). (11)
Ähnlich wie Reich kritisierte Ferenczi 1924 (223 ff.) in seinem gemeinsam mit Rank verfassten Buch „Entwicklungsziele der Psychoanalyse“ die gängig klinische Praxis. Ferenczi wies nicht dem Erinnern, sondern dem Wiederholen die Hauptrolle in der analytischen Technik zu und maß dabei der subjektiven Rolle des Analytikers im Behandlungsprozess eine zentrale Wichtigkeit bei. Das ging so weit, dass er – die Expertenrolle zurückweisend – in seiner klinischen Arbeit die Trennung zwischen Beruf und Privatsphäre zunehmend auflockerte bis hin zur mutuellen (gegenseitigen) Analyse.
Ihm gegenüber stellt Haynal (1989) Reich als die Galionsfigur einer Strömung hin, die nach der Etablierung von Regeln strebt, „die wissenschaftlich, objektivierbar und, wenn möglich, äußere, beruhigende Wahrheiten sein sollen“ (Haynal, 1989, 67). Nun preist hier Haynal „seinen“ so menschlichen Helden Ferenczi auf Kosten Reichs insofern zu Unrecht, als Reich auf seine Art in seiner klinischen Arbeit sogar extremes Engagement entwickelte, persönlich viel riskierte und oft neue Wege einschlug. Er behandelte Schwerkranke, und seine Berichte lesen sich bisweilen wie ein Psychodrama mit zwei äußerst aktiven Protagonisten. (12) Aber ich stimme insofern mit Haynal überein, als Reich sich zwar des Beitrags des Analytikers zum psychoanalytischen Prozess bewusst war, er dabei „die Überlegungen des Analytikers aber in einem System formulierte, das sich vor allem auf die Beiträge des Patienten bezieht. Die Interventionen des Analytikers werden aus dem Blickwinkel der Regeln betrachtet, die vorzeitige, nicht systematische, nicht konsequente etc. Deutungen betreffen“ (Haynal, 1989, 68). So bezeichnete Reich (1942, 53) das technische Seminar im Ambulatorium denn auch als die Geburtsstätte der systematischen analytischen Therapie. Für ihn (1933, 136 f.) ist der analytische Prozess regelhaft als ein anfängliches Auf und Ab in der Lösung der im charakterlichen Panzer gebunden sadistischen und narzisstischen Energien und prägenitalen Fixierungen zu verstehen. Die durch Deutung befreite Libido ist zunächst auf die prägenitalen Positionen konzentriert. Wird sie analytisch von dieser Fixierung gelöst, (13) strebt sie der genitalen Stufe zu, bis sie schließlich in der genitalen Position verharrt und sich genitale Übertragungsfantasien anstelle narzisstischer Wünsche einstellen. Jetzt stellt sich der Kern der Neurose, die Stauungsangst, klar wieder her. Sie entspricht der Stauung der nunmehr frei flottierenden Libido. Die echte positive Übertragung stellt sich nunmehr in ihrer vollen Stärke ein. Der Patient onaniert mit Fantasien aus der Übertragung. Das Stadium für die Auflösung der Übertragung rückt heran. Hier ist nunmehr die „Übertragung der Übertragung“ auf ein reales Objekt erforderlich. Die „schließlich von allen Schlacken, wie Hass, Narzissmus, Trotz, Enttäuschungsbereitschaft usw. befreite Objektlibido“ wird vom Analytiker auf ein anderes Objekt übertragen, auf ein Objekt, das den Bedürfnissen des Patienten entspricht (Reich, 1933, 143). Ziel der Therapie ist nach Reich (1933, 33 f.) die „Herstellung des genitalen Primats nicht nur theoretisch, sondern faktisch, das heißt: der Patient muss durch die Analyse zu einem geordneten und befriedigenden Genitalleben gelangen – wenn er gesund werden und bleiben soll.“ (14)

Reich bezieht sich zwar immer explizit auf Freuds Ansatz, aber er fällt auf einen Freud der Aktualneurose (Freud, 1895, 338) (15) und der ersten Angsttheorie zurück. Bei der Aktualneurose lässt sich die Angst nicht weiter auf verdrängte Vorstellungen anderen Inhalts reduzieren, und es findet keine Symbolbildung statt; sie ist einfach die Folge einer Libidostauung: (16)
„Das letzte therapeutische Agens ist somit ein organischer Prozess im sexuellen Stoffwechselhaushalt, der mit der Sexualbefriedigung im genitalen Orgasmus verbunden ist und mit der Behebung der Aktualneurose, des somatischen Kernes, auch die Grundlage des psychoneurotischen Überbaus beseitigt […]“ (Reich, 1933, 32 f.).

Das Kriterium Genitalität ist bei Reich also normativ als Parameter für seelische Gesundheit eingesetzt. Er meinte, mit der energetischen Definition der Genitalfunktion und der orgastischen Potenz die psychoanalytische Sexual- und Libidotheorie in gerader Richtung fortzusetzen. Aber er ist wieder hinter Freud zurückgefallen, weil er diese Begriffe biologistisch festsetzt und das Lustprinzip konkretistisch auf die Biologie reduziert (Kage, 1986), was ihn ja später den Charakterpanzer als Muskelpanzer verstehen lässt, dem er mit dem Orgonakkumulator zu Leibe rücken wird.
Nachdem seiner Auffassung nach die Libido die Energie war, die durch die Gesellschaft geformt würde und Konflikte bei ihm zwischen den Triebansprüchen des Es und der versagenden Außenwelt bestünden, war es nur folgerichtig für ihn, das Konzept des Todestriebes abzulehnen und angesichts des Ausmaßes des neurotischen Elends, dem er begegnete, von der Behandlung des Einzelnen wegzugehen und direkt die Gesellschaft zu verändern, von der diese überflüssige, pathogene sexuelle Repression ausging.
Freud hatte Reich als Psychoanalytiker ursprünglich sehr geschätzt und bei früheren Konflikten – vor allem mit Paul Federn und Helene Deutsch – lange eine positive Haltung zu ihm bewahrt. Noch am 12. Dezember 1929 hielt Reich einen Vortrag über Neurosenprophylaxe im Hause Freuds, der aber der Ansicht war, dass es nicht die Aufgabe der Psychoanalyse sei, die Welt zu retten (Produktionsgemeinschaft, 1952, 37).
Reich hatte schon beschlossen, nach Berlin umzuziehen, weil dort ein aufgeschlosseneres politisches Klima herrschte. Kurz vor seinem Umzug im September 1930 fand noch einmal ein letztes persönliches Treffen mit Freud statt. Reich hatte gerade den ersten Teil der „Sexuellen Revolution“ unter dem Titel „Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral“ veröffentlicht. Er beschreibt später, dass es vor allem seine Kritik an der bürgerliche Familie war, die Freud ärgerte, nicht die Technik der Charakteranalyse oder seine Genitaltheorie. Beim letzten Treffen mit Freud am Grundlsee gab es einen scharfen Disput:
„Es ging um Folgendes, ich sagte, man müsse die Familie, die auf Liebe gegründet ist, von der Zwangsfamilie unterscheiden. Ich sagte, man müsse alles unternehmen, um Neurosen zu verhindern. Und er antwortete: Ihr Standpunkt hat nichts mehr mit dem mittleren Weg der Psychoanalyse zu tun.“ (Reich, 1952, 33)

Die Familie war für Reich eine Institution, die im Dienste einer repressiven Gesellschaft mithilfe der Erziehung die pathogene Sexualverdrängung durchsetzte. Den Ödipuskomplex setzte Reich in gewisser Hinsicht gleich mit überflüssiger sexueller Repression. Aber damit verleugnete er zu sehr die Bedeutung der Einführung einer Grenzen ziehenden Instanz, die den Zugang zur primär gesuchten Befriedigung verschließt und Wunsch und Realität untrennbar miteinander verknüpft. Dem Ödipuskomplex kommt bei der Bildung der psychischen Strukturen eine zentrale Rolle zu. Die Ersetzung eines Objekts durch das andere, die durch das Inzesttabu erzwungen wird, setzt den Prozess der Symbolbildung, des Denkens, der Internalisierung voraus und befördert ihn weiter.
Reich hatte also Recht und war gleichzeitig auch naiv (Kage, 1986): Die Fähigkeit zur genitalen Befriedigung ist ein wichtiger Indikator. Er verkannte aber die hierfür notwendigen psychischen Entwicklungsprozesse, weil er die Bedingungen des menschlichen Triebschicksals nicht wahrhaben wollte. Die Not, die uns aus unserer Triebnatur erwächst, ist nicht zu vermeiden. Wünsche sind nie restlos zu befriedigen, es sei denn jenseits aller Wünsche in der regressiven Sehnsucht nach einem idealisierten Urzustand, was letztlich dem Wesen des pathologischen Narzissmus entspricht.
Über dessen klinische Handhabung allerdings können wir auch heute noch viel von Wilhelm Reich lernen.

Anmerkungen

(1) Jänner 1919, Flugblatt: Otto Fenichels Einladung zum Seminar für Sexuologie: „Ich gedenke, im Rahmen des akad. Vereins jüdischer Mediziner ein Seminar für Sexuologie zu eröffnen. Das wird keine Stätte für Diskussionen, sondern für wissenschaftliches Arbeiten sein. Ich wende mich an all diejenigen Kollegen und Kolleginnen, die gewillt sind, eine der schwersten Lücken des medizinischen Lehrplanes durch eigene Initiativen auszufüllen. Wer Lust, Zeit und genügendes Interesse für den Gegenstand hat (gewisse Fundamentalkenntnisse müssen natürlich vorausgesetzt werden), wird willkommen sein, Mediziner, eventuell auch Nichtmediziner. Wir werden uns mit führenden Fachleuten in Verbindung setzen, um sie zu bitten, uns mit ihrem Rat beizustehen. Im Allgemeinen aber wollen wir versuchen, im Seminar nicht nur zu lernen, sondern aktiv Forschungsarbeit zu betreiben.
Erste Besprechung: Samstag, den 1. Febr, 11 Uhr vormittags im Lokal des akad. Vereins jüdischer Mediziner, VIII. Alserstr. 9“
Gezeichnet: Otto Fenichel (Siegfried-Bernfeld-Archiv, Library of Congress, Manuscript Division, Washington D.C. Zitiert nach Fallend, Karl [2002]: Otto Fenichel und Wilhelm Reich. Wege einer politischen und wissenschaftlichen Freundschaft zweier „Linksfreudianer“, in: Fallend, Karl/Nitzschke, Bernd [Hg]: Der „Fall“ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Gießen: Psychosozial.)

(2) Reich schlug erstmals am 23.11.1921 die Gründung eines technischen Seminars vor; siehe dazu die Protokolle der WPV (Fallend, 1985; Lobner, 1978).

(3) Siehe dazu W. Reich: Von ‚Charakter‘ und ‚Charakterneurosen‘ war 1920 keine Rede. Im Gegenteil: Das neurotische Einzelsymptom wurde ausdrücklich als Fremdkörper in einem sonst gesunden psychischen Organismus betrachtet“ (1942, 35).

(4) „Das heißt nicht, dass man den Patienten etwa auffordert, nicht aggressiv zu sein, nicht zu täuschen, nicht verworren zu sprechen, die Grundregel zu befolgen und so weiter. Das wäre nicht nur unanalytisch, sondern vor allem fruchtlos. […] Wir heben […] bloß den Charakterzug, von dem der kardinale Widerstand ausgeht, aus dem Niveau der Persönlichkeit heraus, zeigen dem Patienten, wenn möglich, die oberflächlichen Beziehungen zwischen dem Charakter und den Symptomen, überlassen es aber natürlich im übrigen ihm, ob er seine Erkenntnis auch zur Änderung seines Charakters benützen will.“ (Reich, 1933, 66).

(5) Reich, Wilhelm (1927): Zur Technik der Deutung und der Widerstandsanalyse. Int. Ztschr. f. Psa. XII, 141–159. Diese Arbeit hatte Reich zuerst im Seminar für psychoanalytische Therapie im Juni 1926 vorgetragen und dann als Kapitel in die „Charakteranalyse“ (1933, 38) aufgenommen.

(6) Seinen Kritikern entgegnete Reich: „Gerade das Bestreben, eine intensive positive Übertragung zu erzielen, war eines der Motive, dass ich der negativen so große Aufmerksamkeit schenkte; das frühe und restlose Bewusstmachen der negativen, kritischen, herabsetzenden usw. Einstellung zum Analytiker stärkt nicht die negative Übertragung, sondern hebt sie auf und kristallisiert die positive reiner heraus.“ (1933, 131)

(7) Reichs politische Radikalisierung steht im Zusammenhang mit den politischen Unruhen, die 1927 zum Brand des Justizpalastes führten. Als einer jener Analytiker, die im „Roten Wien“ der 1920er-Jahre politisch engagiert waren, gelangte er schließlich zu der Auffassung, dass die Libido diejenige Energie sei, die durch die Gesellschaft geformt wird. So gründete er im Jänner 1929 die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“, in der einige Analytiker aus der Wiener Vereinigung mitarbeiteten. Aber auch die dort mögliche Hilfe war begrenzt. Dem neurotischen Elend der ganzen Bevölkerung war nach Reich nur durch die Veränderung der politischen Verhältnisse beizukommen.

(8) „Wir trachteten, ihn dazu zu bringen, zu Sándor Ferenczi in Analyse zu gehen, der als glänzender Therapeut galt. (Helene Deutsch sagte mir einmal, ‚Der Ferenczi macht selbst ein Pferd gesund.‘) Wir hatten fast Erfolg, da entschied er sich zu einem anderen Sándor in Analyse zu gehen, nämlich zu Rado in Berlin. Doch brach er die Behandlung nach kurzer Zeit ab […]“ (Sterba, 1982, 90).

(9) Das Ambulatorium selbst aber setzte unter Eduard Hitschmann (1932) seine Arbeit erfolgreich fort. Spenden anlässlich Freuds 80. Geburtstag ermöglichten es 1936 sogar, geeignete Räume anzumieten und großzügig auszustatten. Aber schon 1938 – sofort nach ihrer Machtübernahme – lösten die Nationalsozialisten alle psychoanalytischen Einrichtungen in Wien auf. Was mit so viel Mühe, aber auch so viel Gewinn aufgebaut wurde – zerstört war alles schnell und sehr nachhaltig.

(10) „Während in der Zeit der Katharsis die Vorstellung bestand, dass es darauf ankomme, den ‚eingeklemmten Affekt aus der Verdrängung zu befreien‘, um das Symptom zum Schwinden zu bringen, hieß es später – in der Periode der Widerstandsanalyse – vielleicht als Überrest aus der Zeit der direkten Deutung des Symptomsinnes, dass das Symptom schwinden müsse, wenn die ihm zugrunde liegende verdrängte Vorstellung bewusst geworden ist. Später, als sich die Unhaltbarkeit dieses Satzes herausstellte, als man wiederholt die Erfahrung machte, dass Symptome trotz der Bewusstheit des früher verdrängt gewesenen Inhaltes bestehen bleiben, änderte Freud in einer Diskussion in einer Sitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung die erste Formel dahin ab, dass das Symptom schwinden könne, wenn sein unbewusster Gehalt bewusst geworden ist, dass es aber nicht schwinden müsse. Nun stand man vor einem neuen und schwierigen Problem.“ (Reich, 1933, 29)
 
(11) Reich betonte immer, dass er Freuds Grundsätzen der Deutung des Unbewussten, die im Beheben der Widerstände und in der Handhabung der Übertragung beruhen, nichts hinzuzufügen habe (1933, 28 f.).
 
(12) Siehe dazu das Fallbeispiel zum Kapitel „Die Panzerung des masochistischen Charakters“ (Reich, 1933, 223–235).

(13) Da erscheint aber zuerst nicht der genitale Ödipuswunsch, sondern seine Abwehr durch das Ich in Form der Kastrationsangst. Diese wiederum reaktiviert den narzisstischen Abwehrmechanismus. Die Deutungsarbeit hat daran unermüdlich anzusetzen, fördert dadurch immer tieferes Material zutage und löst so bei jedem Vorstoß zur Genitalität ein Stück Angst auf.

(14) Reich: „Es ist nicht ungefährlich, die therapeutischen Forderungen nach der effektiven Sexualbefriedigung weniger strikt zum Ziele zu erheben als die nach Sublimierung, schon deshalb, weil die Sublimierungsfähigkeit eine noch unverstandene Gabe ist, die Fähigkeit zur Sexualbefriedigung […] ist hingegen durch Analyse durchschnittlich herstellbar“ (Reich, 1933, 33 f.).

(15) Freud S. 46, 1895: „Die Psyche gerät in den Affekt der Angst, wenn sie sich unfähig fühlt, eine von außen nahende Aufgabe (Gefahr), durch entsprechende Reaktion zu erledigen; sie gerät in die Neurose der Angst, wenn sie sich unfähig merkt, die endogen entstandene (Sexual-) Erregung auszugleichen.“

(16) Reich: „So war mit einem Male klar, wo das Problem der Quantität verankert lag: es konnte nichts anders sein als die organische Grundlage, der ‚somatische Kern der Neurose‘, die Aktualneurose, die sich aus der gestauten Libido entwickelt. Und das ökonomische Problem der Neurose sowohl wie ihre Heilung lag somit zu einem großen Teile auf somatischem Gebiet, war nur zugänglich über die somatischen Inhalte des Libidobegriffes […]Das letzte therapeutische Agens ist somit ein organischer Prozess im sexuellen Stoffwechselhaushalt, der mit der Sexualbefriedigung im genitalen Orgasmus verbunden ist und mit der Behebung der Aktualneurose, des somatischen Kernes, auch die Grundlage des psychoneurotischen Überbaus beseitigt […]“ (Reich, 1933, 32 f.).

Literatur

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Publiziert in: Christine Diercks, Sabine Schlüter (2009): Die großen Kontorversen. Simgund-Freud-Vorlesungen 2007. Wien: Mandelbaum

Redaktion: CD, 2013 07 14