Siegfried Bernfeld - Biografie von Thomas Aichhorn
Siegfried Bernfeld (1892-1953) wurde in Lemberg geboren, sein Vater arbeitete im Textilgroßhandel und ließ sich in Wien nieder. Bernfeld studierte in Wien Pädagogik und Psychologie, 1915 promovierte er mit einer Arbeit über den Begriff der Jugend. Zu dieser Zeit hat er bereits als Gast an Sitzungen der WPV teilgenommen (Nunberg u. Federn 1962, S. 284).
Bernfeld, ein engagierter Zionist und Sozialist, war einer der einflussreichsten Initiatoren und Führer der Wiener Jugendkulturbewegung. Sein Interesse für Freuds Psychoanalyse hat eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse in Wien gespielt. Sein Einfluss auf die Gruppe von Jugendlichen, vor allen anderen sei Otto Fenichel genannt, die nach dem Ersten Weltkrieg die neuen Mitglieder der WPV werden sollten, wurde für sie zum entscheidenden Anlass, sich selbst mit Psychoanalyse zu beschäftigen.
Schon vor dem Krieg hat Bernfeld wohlhabende jüdische Kreise auf die vielen jüdischen Kinder aufmerksam gemacht, die im Osten Europas unbetreut lebten. Die Situation verschärfte sich durch den Ausbruch des Krieges und mit Artikeln in Martin Bubers Zeitschrift “Der Jude“, versuchte er, Bewusstsein dafür zu wecken, dass für die Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen dringend größere Geldmittel benötigt würden. Im August 1919 gelang es ihm schließlich, finanzielle Unterstützung durch das American Joint Distribution Committee zu erhalten, die es ihm erlaubte, ein Heim für Kinder und Jugendliche zu errichten.
Als Anna Freud Siegfried Bernfeld kennen lernte, war er gerade mit der Errichtung der Freien jüdischen Siedlung Baumgarten beschäftigt, die jüdische Kriegswaisen betreuen und sie auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiten sollte. Das Heim war in einem ehemaligen Militärspital untergebracht, das von zionistischen Freiwilligen behelfsmäßig adaptiert worden war. Schon 1920, nicht einmal ein Jahr nach der Eröffnung, mussten Bernfeld und seine Mitarbeiter Baumgarten wieder verlassen, weil es zu unauflösbaren Konflikten mit dem Joint Commitee gekommen war, das Bernfelds Erziehungsprinzipien von allem Anfang an misstrauisch und ablehnend gegenüber gestanden war (Bernfeld 1921; Hoffer 1965; Mende und Aichhorn, Th. 1983; Young-Bruehl 1988).
Anna Freud bewunderte Bernfeld in diesen ersten Jahren ihrer Bekanntschaft sehr, aber sie fand auch, dass seine Erfahrungen mit Baumgarten aus ihm einen unverlässlichen Zyniker gemacht hätten. In seiner Schrift Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (Bernfeld 1925) versuchte er auf der Grundlage von Marx’ politischer Ökonomie und Freuds Psychoanalyse die äußeren und inneren Barrieren der Erziehung aufzuzeigen.
Willi Hoffer charakterisiert Bernfeld folgendermaßen: „At that time I was active in Vienna in this youth movement [der zionistischen Jugendgruppe „Blau-Weiß“], and Bernfeld was related to it. He was a great leader, a wonderful speaker and so on. […] He was a member of the Vienna Psychoanalytic Society […] But he was a very eloquent man and a very fine writer. His ideas went always toward scientific research into adolescence, and Freud had a certain attraction. At this time he was a very, very lively and diligent young man, you know. […] I think, though I did not know Freud at that time, Freud had some regard for him, and later much more, in the year in which I came in” (OHC, S. 5f).
Bernfeld war ab 1915 Gast und ab 1919 Mitglied der WPV, ihr Sekretär und Bibliothekar. 1922 hat er begonnen als Psychoanalytiker zu praktizieren.
Bernfeld hatte entscheidenden Anteil an der Einrichtung des Ambulatoriums der WPV und an der Einführung erster Lehrkurse. Im 1924/25 eröffneten Lehrinstitut der WPV war er Stellvertreter Helene Deutschs, die die Leitung des Lehrinstituts inne hatte (vgl. Schröter 2002a u. 2002b). In späteren Jahren ist er der Ausbildung zum Psychoanalytiker, so wie sie in diesen Jahren erstmals eingeführt worden war, sehr kritisch gegenüber gestanden (Bernfeld 1952).
Im Herbst 1925 übersiedelte Bernfeld nach Berlin, wo er eine psychoanalytisch-pädagogische Arbeitgemeinschaft leitete und wurde Mitglied der DPG (Kloocke u. Mühlleitner 2004). 1932 kehrte er nach Wien zurück. In der Lehrausschuss-Sitzung der WPV vom 4.7.1933 teilt er mit, dass er, Anna Freud, Aichhorn und Hoffer Vorschläge für eine Neuregelung der Ausbildung zum analytischen Pädagogen ausgearbeitet hätten. Bernfeld hatte in Berlin bereits ähnliche Vorschläge gemacht (Zehn Jahre Berliner Psychoanalytisches Institut 1930, S. 61ff;), diesmal wurden sie akzeptiert und ein eigener Lehrgang für Pädagogen wurde eingeführt (Aichhorn, Th. 2004).
1934 emigrierte Bernfeld nach Frankreich, 1937 nach London und im selben Jahr in die USA, wo er sich am Aufbau und Unterricht des psychoanalytischen Instituts in San Francisco beteiligte (Fallend und Reichmayr, 1992, Mühlleitner, 1992, S. 36ff). Mit seiner dritten Frau Suzanne Cassirer arbeitete Bernfeld an der Rekonstruktion der wissenschaftlichen Biographik Sigmund Freuds (Bernfeld und Cassirer Bernfeld 1988).
Zwischen Bernfeld und Aichhorn dürfte ein gewisses Rivalitätsverhältnis bestanden haben. Aichhorn hat ihn jedenfalls als Ratgeber und Diskussionspartner Anna Freuds bald abgelöst. Sie schreibt an Lou Andreas-Salomé im Februar 1923. „Mit Bernfeld geht es mir nicht besser wie voriges Jahr: alles psychoanalytische, das ich im Gespräch mit ihm herausbringe, erscheint mir als Unsinn und ist es wohl auch wirklich. Aber mit Aichhorn geht es glänzend und er steckt bis über den Kopf in lauter – menschlich und analytisch – interessanten Fällen“ (LAS/AF, S. 152). Später hat Anna Freud mit Bernfeld in Bezug auf die Ausbildung von psychoanalytischen Pädagogen heftige Auseinandersetzungen gehabt (Aichhorn, Th. 2004, S. 17f).
Katá Lévy schreibt im Juli 1946 an Aichhorn: „Ich habe soeben die Lektüre eines von Dir zu Weihnachten 25 mir geschenkten Buches: Bernfeld, Schulgemeinde Baumgarten, beendet, das für manche von uns hier aufregend aktuell ist. Ein Mitglied unserer Vereinigung hat es übernommen, die pädagogische Reform von 23 zionistischen Kinderheimen durchzuführen. Wir, die in dieser Richtung tätig sind oder waren, haben schon eine Rollenverteilung von Arbeit in der Kontrolle der Heime oder Ambulanzen oder Ausbildung von Pädagogen unternommen, haben auch schon Kurse geleitet und sind ganz plötzlich auf Schwierigkeiten gestoßen, die den ganzen Plan zu stürzen drohen. Da kommt mir plötzlich dieses Buch, das ich nie vorher gelesen hatte, in die Hand und ich habe es in atemloser Spannung zu Ende gelesen“ (NAA). Aichhorn antwortet ihr: „Ich wundere mich sehr, dass Bernfelds Schulgemeinde Baumgarten so aufregend auf Euch wirkt, dass Du es in ‚Atemloser Spannung’ zu Ende lesen musstest. Ja, liebe Kata, hast Du denn in den 20 Jahren unseres Zusammenseins meine Bemühungen immer nur über den Kopf zur Kenntnis genommen und nie erlebt? Wir sind hier schon viel weiter“ (Kopie, NAA).
Text: Thomas Aichhorn, 2008
Redaktion: CD, 2008