Siegfried Bernfeld - Biografie von Barbara Forstinger
Siegfried Bernfeld wird am 7. Mai 1892 als erstes von drei Kindern des jüdischen Textilkaufmannes Isidor Bernfeld und seiner Frau Hermine geboren. Aufgewachsen ist Bernfeld in Wien, wo er 1911 maturiert und anschließend an der Universität Wien Biologie und Mathematik studiert, jedoch bald zu Pädagogik und Psychologie wechselt. 1914 besucht er ein Semester an der Universität Freiburg.
1915 promoviert Bernfeld in Wien. Seine Dissertation trägt den Titel „Über den Begriff der Jugend“.
Bernfelds Interesse an Erziehungs- und sozialen Fragen reicht bis in seine Schulzeit zurück. Inspiriert vom deutschen Reformpädagogen Gustav Wyneken, gründet er 1912 das „Akademische Comité für Schulreform“, welches 1914 von der Polizei wieder aufgelöst wird. Bernfeld tritt für eine revolutionäre Veränderung des Erziehungswesens und der Schulen ein und fordert die Aufhebung der sozialen Herkunftsunterschiede in einer „klassenlosen Erziehung“.
Ab 1914 engagiert Bernfeld sich aufgrund des wachsenden Antisemitismus in der zionistischen Bewegung. In den Jahren 1917- 21 übernimmt er leitende Funktionen in der Jugenderziehung des Zionistischen Zentralrates für West-Österreich. 1918 gründet er die Zeitschrift „Jerubbaal“, „(…) die sich zum Ziel machte, die widerstreitenden zionistischen und sozialistischen Fraktionen innerhalb des österreichischen Judentums zusammenzubringen und eine Jugendbewegung als Avantgarde des jüdischen Nationalismus ins Leben zu rufen (…)“ (Paret, 1992).
1915 wird Bernfeld Gast in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und 1919, nach seinem Vortrag „Das Dichten Jugendlicher“ Mitglied. In diesem Jahr gründet er auch das Kinderheim Baumgarten, in dem er gemeinsam mit Willi Hoffer jüdische Kriegswaisen aufnimmt und sein reformpädagogisches Konzept neuer Erziehung durchzuführen beginnt. Auch psychoanalytische Erkenntnisse finden Anwendung. Nach einem Jahr scheitert das Projekt aufgrund finanzieller Schwierigkeiten.
Nach einem durch Überanstrengung notwendig gewordenen Sanatoriumsaufenthalt übersiedelt Bernfeld nach Heidelberg, wo er 1920 für einige Monate Mitarbeiter Martin Bubers in der Herausgabe der Zeitschrift „Der Jude“ ist. Anschließend kehrt Bernfeld nach Wien zurück und beginnt als Psychoanalytiker zu praktizieren. 1924 wird er Sekretär der Wiener Vereinigung und gleichzeitig auch stellvertretender Leiter des psychoanalytischen Lehrinstituts. 1922 publiziert er „Vom Gemeinschaftsleben der Jugend“ und 1924 „Vom dichterischen Schaffen der Jugend“. 1925 erscheinen die „Psychologie des Säuglings“ und ein Hauptwerk Bernfelds, „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“. Sozialistische Sozialkritik und Psychoanalyse finden in dieser empirischen Erziehungspsychologie ihren Ausdruck.
Ende 1925 übersiedelt Bernfeld nach Berlin und wird Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft. Er praktiziert dort als Psychoanalytiker und als Lehranalytiker am Berliner Institut. Durch den Erfolg seines Buches „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ gilt Bernfeld als Spezialist für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Pädagogik. Neben seiner Arbeit verfolgt er weiterhin Fragestellungen, die einen Versuch unternehmen, Psychoanalyse und Marxismus zu verbinden. In dieser Zeit erscheint eine Reihe von Schriften, die sich mit der Schulgemeinde, Problemen der Schule und einer psychoanalytisch-marxistischen Kritik der Pädagogikgeschichte beschäftigen. Unter anderem leitet Bernfeld in Berlin 1931/1932 eine pädagogische Arbeitsgemeinschaft mit dem deutschen Psychoanalytiker Carl Müller-Braunschweig.
Ab der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wird Bernfelds vorrangige Beschäftigung mit der Psychologie von Jugendlichen und mit Erziehung allmählich durch Studien zur psychoanalytischen Theorie, zu den biologischen Wurzeln der Analyse und zur Quantifizierung verdrängt. Sein Wunsch ist, die wissenschaftliche Basis der Psychoanalyse zu erweitern und die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften zu erforschen, gestützt durch sein Interesse an Biologie und Mathematik.
1929 startet er gemeinsam mit seinem Freund Sergei Feitelberg, einem Moskauer Ingenieur und Medizinstudent, das Projekt „Libidometrie“, einen Versuch, eine experimentell-naturwissenschaftlich abgesicherte Basis für die Psychoanalyse zu schaffen. 1930 publiziert Bernfeld gemeinsam mit Feitelberg psychophysiologische Arbeiten wie etwa „Energie und Trieb“, sowie „Über psychische Energie, Libido und deren Messbarkeit“. Die letzte Arbeit wird im Wiener Kreis, besonders mit Moritz Schlick, diskutiert, wobei deutlich wird, dass der Versuch einer Quantifizierung der Libido scheitern muss (Leupold-Löwenthal, 1986).
Von 1926 bis 1930 ist er Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin.
Bernfeld bleibt bis 1932 in Berlin. Die Zeit ist durch eine intensive Lehr und Forschungstätigkeit gekennzeichnet und kann, gemessen an der Zahl seiner gesamten wissenschaftlichen Publikationen und der Intensität seiner Vortragstätigkeit, als die produktivste Periode seines Schaffens angesehen werden (Erich, 1992). Ebenfalls in diese Zeit fallen (1926) die Scheidung von seiner ersten Frau, Anne Salomon, sowie die Heirat (1930) mit seiner zweiten Frau, der Schauspielerin Elisabeth Neumann. Von 1930 bis 1932 macht Bernfeld eine Lehranalyse bei Hanns Sachs.
Im Herbst 1932 kehrt Bernfeld nach Wien zurück und wird wieder in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung aktiv. 1933 wird er in ihren Vorstand gewählt. In diese Zeit fallen eine Reihe wichtiger wissenschaftstheoretischer Arbeiten über psychoanalytische Theorie und Technik mit dem Ziel, die Psychoanalyse von ihren ideologischen Anteilen zu befreien (Leupold- Löwenthal, 1986).
Bernfeld verlässt 1934 Wien und geht nach Südfrankreich, wo er seine dritte Frau, Suzanne Aimée Cassirer, die Tochter des bekannten Kunsthändlers und Verlegers Paul Cassirer, heiratet. In Frankreich praktiziert er weiter als Analytiker und setzt seine Studien über das Verhältnis von Psychoanalyse und anderer Wissenschaften (Psychologie, Biologie, Philosophie, Physik) fort.
1937 geht das Ehepaar Bernfeld nach einem Zwischenaufenthalt in London in die Vereinigten Staaten und lässt sich in San Francisco nieder. In den letzten Lebensabschnitt fällt die Bearbeitung der frühen Biographie Sigmund Freuds gemeinsam mit seiner Frau Suzanne Cassirer. 1944 erscheint die erste Publikation zur Freud-Biographik „Freud’s Earliest Theories and the School of Helmholtz“.
Ab 1938 beteiligt er sich am Aufbau und Unterricht des psychoanalytischen Instituts in San Francisco. Seinen letzten Vortrag, mit dem Titel „On Psychoanalytic Training“ hält er 1952, nur 6 Monate vor seinem Tod, in der San Francisco Society. Die Arbeit beinhaltet Kritik an den Ausbildungsmethoden des Instituts und deren Konsequenzen.
„Als enthusiatischer Lehrer, wortgewandter Redner und leidenschaftlicher Idealist fühlte sich Bernfeld stets den Bedürfnissen der Studenten verpflichtet und ihrem Vorrecht nach freier und selbstbestimmter Entfaltung ohne Einschränkungen durch bürokratische Institutionen. (…) Autoritäre und bürokratische Institutionen, die Schüler einengen und ihre Kreativität ersticken, waren ihm ein Greuel“ (Benveniste, 1992, S. 301).
Nach einer längeren Krankheit stirbt Siegfried Bernfeld am 2.4.1953 in San Francisco.
Bildquelle: Siegfried Bernfeld, 2. v.r.; SF-Stiftung Wien.
Text: Barbara Forstinger, 2008
Redaktion: CD 2. Juni 2010