Freud, Sigmund (1923i): Dr. Ferenczi Sandor (Zum 50. Geburtstag)
Freud, Sigmund (1923i): Dr. Ferenczi Sandor (Zum 50. Geburtstag). GW XIII, 443-445.
Wenige Jahre nach ihrem Erscheinen (1900) geriet die “Traumdeutung” auch in die Hand eines jungen Budapester Arztes, der Neurologe, Psychiater und gerichtlicher Sachverständiger, doch eifrig nach neuem Erwerb in seiner Wissenschaft ausschaute. Er kam nicht weit in der Lektüre, bald hatte er das Buch von sich geworfen; es ist nicht bekannt, ob mehr gelangweilt oder angewidert. Indes kurze Zeit nachher lockte ihn der Ruf von neuen Arbeits- und Erkenntnismöglichkeiten nach Zürich, von dort trieb es ihn nach Wien, um den Autor des einst verächtlich beseitigten Buches zu sprechen. An diesen ersten Besuch knüpfte eine lange, intime und bis heute ungetrübte Freundschaft an, in deren Betätigung er auch 1909 die Reise nach Amerika zu den Vorlesungen an der Clark-University in Worcester, Mass., mitmachte.
Dies waren die Anfänge Ferenczis, der seither selbst ein Meister und Lehrer der Psychoanalyse geworden ist und in diesem Jahre, 1923, gleichzeitig sein fünfzigstes Lebensjahr wie das erste Dezennium in der Führung der Budapester Ortsgruppe vollendet.
Ferenczi hat wiederholt auch in die äußeren Schicksale der Psychoanalyse eingegriffen. Bekannt ist sein Auftreten auf dem zweiten Kongreß der Analytiker, Nürnberg 1910, wo er die Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung als Abwehrmaßregel gegen die Ächtung der Analyse durch die offizielle Medizin in Vorschlag brachte und durchsetzen half. Auf dem fünften Analytischen Kongreß in Budapest, September 1918, wurde Ferenczi zum Präsidenten der Vereinigung gewählt. Er bestimmte Anton v. Freund zu seinem Sekretär und die vereinte Tatkraft beider Männer sowie die großzügigen Stiftungsabsichten Freunds hätten Budapest sicherlich zur analytischen Hauptstadt Europas erhoben, wenn nicht politische Katastrophen und persönliche Schicksale diese schönen Hoffnungen erbarmungslos vernichtet hätten. Freund erkrankte und starb im Jänner 1920, im Oktober 1919 hatte Ferenczi unter Berufung auf die Isolierung Ungarns vom Weltverkehr seine Stelle niedergelegt und das Präsidium der Internationalen Vereinigung Ernest Jones in London übertragen. Während der Dauer der Sowjetrepublik in Ungarn war Ferenczi mit den Funktionen eines Universitätslehrers betraut gewesen und die Hörer hatten sich zu seinen Vorlesungen gedrängt. Die Ortsgruppe aber, die er 1913 gegründet hatte, (FN) überstand alle Stürme, entwickelte sich unter seiner Leitung zu einer Stätte intensiver und fruchtbringender Arbeit und glänzte durch eine Häufung von Begabungen, wie sie sich an keinem anderen Orte zusammengefunden hatten. Ferenczi, der als ein mittleres Kind aus einer großen Geschwisterreihe ursprünglich einen starken Bruderkomplex in sich zu bekämpfen hatte, war unter der Einwirkung der Analyse ein tadelloser älterer Bruder, ein gütiger Erzieher und Förderer junger Talente geworden.
Ferenczis analytische Schriften sind allgemein bekannt und gewürdigt worden. Seine “Populären Vorträge über Psychoanalyse” hat unser Verlag erst 1922 als XIII. Band der “Internationalen Psychoanalytischen Bibliothek” herausgegeben. Klar und formvollendet, mitunter fesselnd geschrieben, sind sie eigentlich die beste “Einführung in die Psychoanalyse” für den ihr ferner Stehenden. Eine Sammlung der rein fachlich-medizinischen Arbeiten, von denen eine Anzahl durch E. Jones ins Englische übersetzt worden ist (Contributions to Psycho-Analysis 1916), steht noch aus. Der Verlag wird diese Aufgabe nachholen, sobald die Ungunst der Zeiten es ihm nicht mehr verwehrt. Die in ungarischer Sprache erschienenen Bücher und Broschüren haben zahlreiche Auflagen gehabt und die Analyse den gebildeten Kreisen Ungarns vertraut gemacht.
Die wissenschaftliche Leistung Ferenczis imponiert vor allem durch ihre Vielseitigkeit. An glückliche kasuistische Funde und scharf beobachtete klinische Mitteilungen (Ein kleiner Hahnemann — Passagère Symptombildungen während der Behandlung — Mitteilungen aus der analytischen Praxis) reihen sich mustergiltige kritische Arbeiten, wie die über Jungs Wandlungen und Symbole der Libido und Régis und Hésnards Beurteilung der Analyse, treffliche Polemiken, wie die gegen Bleuler in der Alkoholfrage und gegen Putnam betreffs des Verhältnisses der Psychoanalyse zur Philosophie, maßvoll und würdig bei aller Entschiedenheit. Ferner die Aufsätze, auf denen Ferenczis Ruhm vorwiegend beruht, in denen seine Originalität, sein Gedankenreichtum und seine Verfügung über eine wohlgeleitete wissenschaftliche Phantasie so erfreulich zum Ausdruck kommen, durch die er wichtige Stücke der psychoanalytischen Theorie ausgebaut und die Erkenntnis fundamentaler Verhältnisse im Seelenleben gefördert hat (Introjektion und Übertragung — Die Theorie der Hypnose — Die Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes — Die Arbeiten über Symbolik u. a.). Endlich die Arbeiten dieser letzten Jahre (Kriegsneurosen — Hysterie und Pathoneurosen — Zur Psychoanalyse der paralytischen Geistesstörung [mit Hollós]), in denen das ärztliche Interesse vom psychologischen Tatbestand zur somatischen Bedingtheit hindrängt, und seine Ansätze zu einer “aktiven” Therapie.
So unvollständig diese Aufzählung ausgefallen ist, so wissen doch seine Freunde, daß Ferenczi noch mehr für sich behalten hat, als er sich mitzuteilen entschließen konnte. An seinem fünfzigsten Geburtstage vereinigen sie sich in dem Wunsch, daß ihm Stimmung, Kraft und Muße gegönnt sein mögen, seine wissenschaftlichen Vorsätze in neuen Leistungen zu verwirklichen.
(FN) Die konstituierende Generalversammlung wurde am 19. Mai 1913 von Ferenczi als Obmann, Dr. Radó als Sekretär, Hollós, Ignotus und Lévy als Mitgliedern abgehalten.
Bild: Freud mit Ferenczi während des 1. Weltkrieges.
Redaktion: CD, 2008