Wilhelm Stekel - Biografie: Alfred Springer
Wilhelm Stekel wurde am 18. März 1868 in Bojan in der Bukowina geboren. Medizin studierte er in Wien, wo er nach dem Abschluss des Studiums im Jahre 1893 bei Krafft-Ebing eine neurologische Ausbildung genoss und mit Wilhelm Winternitz Forschungen zur Methode der Hydrotherapie betrieb. 1895 veröffentlichte er die Studie „Über Coitus im Kindesalter“, die von Freud in den „Studien über Hysterie“ (Breuer/Freud, 1895) zitiert wurde. Er ließ sich dann als Neurologe nieder.
Neben seiner ärztlichen Tätigkeit war er als Journalist aktiv. Ab 1901 war er ständiger Autor von Feuilletons im „Neuen Wiener Tagblatt“; darüber hinaus arbeitete er bei anderen bekannten deutschen Zeitschriften mit.
Wilhelm Stekel ist eng mit der frühen Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung verwoben. Wie Adler zählte er zu den frühesten Wegbegleitern Sigmund Freuds. Als er sich als junger Arzt zum Praktiker ausbilden ließ und zunächst bei Krafft-Ebing Hysterische mittels Elektrotherapie und später bei Winternitz Nervöse mittels Hydrotherapie zu behandeln lernte, empfand er Ungenügen an diesen Methoden. Die Kenntnis der Schriften Freuds bestätigte ihm bestimmte Überlegungen, die er an seinen Patienten angestellt hatte und überzeugte ihn restlos davon, dass psychisch Kranke nur durch psychologische Behandlung geheilt werden könnten. So wurde er zum ersten Mitarbeiter Freuds und regte die Versammlungen der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft an, die sich zunächst jeden Mittwoch um 20:30 in Freuds Ordination traf, um über Psychoanalyse zu diskutieren. 1911 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft gewählt und war in den Jahren 1910 und 1911 zusammen mit Alfred Adler Herausgeber des „Zentralblattes für Psychoanalyse.“
Der erste Band seines Hauptwerkes, der Schriftenreihe über Störungen des Trieb- und Affektlebens, „Über nervöse Angstzustände und ihre Behandlung“, erschien noch mit einem Vorwort Freuds. Querelen um die Herausgeberschaft des „Zentralblattes für Psychoanalyse“ und die Haltung Freuds gegenüber C. G. Jung einerseits und den Mitgliedern der WPV andererseits wurden dann zum offiziellen Grund dafür, dass Stekel aus der WPV ausschied. Ein kleiner Triumph mag es für ihn gewesen sein, dass er sich hinsichtlich der Herausgeberschaft des „Zentralblattes“ gegenüber Freud durchsetzte. Der Verleger entschied sich für ihn, und ab dem dritten Jahrgang erschien dieses Periodikum unter der alleinigen Schriftführung Stekels.
Auf jeden Fall kam es 1912, nach einer längeren Zeit der Auseinandersetzung und Entfremdung, zum Bruch mit Freud und zum Ausscheiden aus der Psychoanalytischen Vereinigung. Dadurch wurde aber auch die Vereinigung selbst entscheidend verändert. Zählte doch nach Stekels Ausscheiden nur mehr die Hälfte jener Personen, die einst die Mittwoch-Gesellschaft bildeten, zum Kreis um Freud.
Freud und Stekel
Freuds Verhältnis zu Stekel in jenen Jahren lässt sich dem Briefwechsel entnehmen, den er mit C. G. Jung führte. Freuds Formulierungen lassen in ihrer Härte und Ambivalenz einen tiefer gehenden Konflikt vermuten. Am 11. November 1909 schrieb er an Jung (Freud/Jung, 1974, 160 F):
„Er ist ein zucht- und kritikloser Mensch, der alle Disziplin verdirbt […]. Das Malheur ist nur, dass er von uns allen die beste Spürnase für den Sinn des Unbewussten hat. Denn er ist ein absolutes Schwein, und wir sind eigentlich anständige Leute, die sich doch nur widerwillig der Evidenz ergeben. Ich habe ihm oft in Deutungen widersprochen und dann später eingesehen, dass er recht hatte. So muss man ihn halten und mit Misstrauen von ihm lernen […]“!
Die „Schweinemetapher“ blieb über die Jahre aufrecht. Am 14. März 1911 schrieb Freud (Freud/Jung, 1974, 240 F) an Jung über Stekels „Die Sprache des Traumes“:
„Stekels neues Buch ist wie immer inhaltsreich – das Schwein findet Trüffeln – aber sonst eine Schweinerei, ohne Versuch einer Zusammenfassung voll von hohlen Allgemeinheiten und neuen schiefen Verallgemeinerungen, mit einer unglaublichen Schlamperei gemacht. Cacatum non est pictum […]. Er repräsentiert das unkorrigierte, perverse Unbewusste […].“
Andererseits hatte er in seinem Schreiben vom 13. August 1908 (Freud/Jung, 1974, 106 F) Stekel gegen einen Angriff Jungs hinsichtlich des Buches „Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung“ verteidigt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass er zu dem Buch ein Vorwort beigetragen hatte, in dem er die Verantwortung für Stekels Arbeit auf sich nahm und zum Ausdruck brachte, dass Stekels Werk auf reicher Erfahrung fußt und für die Ärzteschaft eine ausgezeichnete Einführung in die unbewusste Ätiologie der Angstkrankheit repräsentiert.
Freud selbst begründete seine Haltung gegenüber Stekel vor allem mit dessen Verhalten hinsichtlich des „Zentralblattes“ ihm gegenüber und mit allgemeineren Verhaltensproblemen und blieb zeitlebens bei dieser Interpretation.
Stekels Entwicklung des Prinzips der „aktiven Psychoanalyse“
Nach seinem Ausscheiden aus der WPV ging Stekel zunehmend eigene Wege in Theorie und Praxis. In seinem eigenen Vorwort zur 1912 erfolgten zweiten Auflage von „Über nervöse Angstzustände und ihre Behandlung“ (die immer noch das Vorwort von Freud enthielt) differenzierte er sich konzeptuell und sprachlich von Freud. Er vertrat die Auffassung, dass das Wesen der Neurosen in einer Störung der Affektivität begründet sei und führte die Begriffe „Parapathie“ und „Paralogie“ anstelle von „Neurose“ und „Psychose“ ein. Seine Serie von Monografien über die „Störungen des Trieb- und Affektlebens“ erschien in der Folge mit dem Untertitel „Die parapathischen Erkrankungen“. Weiters bezeichnete er seine Methode als „Psychanalyse“.
Hinsichtlich theoretischer Annahmen stellte Stekel sich bereits in der Frühzeit der psychoanalytischen Bewegung mit der Auffassung gegen Freud, dass alle neurotischen „parapathischen“ Entwicklungen aus einem seelischen Konflikt entstünden und es keine „Aktualneurosen“ im Sinne Freuds gäbe, die auf aktuelle Schädlichkeiten wie Masturbation oder Koitus interruptus zurückzuführen seien. Später formulierte er, dass alle Parapathien auf einem psychischen Konflikt aufbauen würden, der dem Sexualleben, aber auch dem Willen zur Macht (dem Ehrgeiz) entspringen könnten. Die Perversion (bei Stekel die Paraphilie) wird nicht wie bei Freud als das Negativ der Neurose interpretiert, sondern als eine besondere Form der Parapathie. Sie imponierte Stekel dementsprechend als psychisch bedingt und als analytisch heilbar. Die Paraphilien erschienen Stekel oftmals als Schutzbauten des ethischen Ichs und als verkappte Formen des Aszetismus. Neben der Unterdrückung der Sexualität erkannte er der Unterdrückung der moralischen oder ethischen Vorstellungen als „Maske der Religiosität“ pathoplastische Bedeutung zu. Später stellte er auch die Bedeutung des Unbewussten zunehmend infrage und lehnte das Lehrgebäude der Strukturtheorie und die metapsychologischen Konzeptionen ab. Sein Verständnis des Unbewussten unterschied sich dabei vom Freud’schen Verständnis, indem es die Funktion des Vorbewussten einschloss. Er formulierte: „Unbewusst oder unterbewusst in unserem Sinne heißt: das, was wir nicht sehen wollen. Nur der Traum bringt unbewusstes Material.“ (Stekel, 1933)
Stekel verstand Psychoanalyse als Form der ärztlichen Intervention, die demgemäß auch Ärzten vorbehalten bleiben sollte. Den Einsatz Freuds für die Laienanalyse bezeichnete er dementsprechend als Fehlgriff. Folgerichtig gründete er die Gesellschaft für ärztliche Psychoanalyse.
In praktischer Hinsicht grenzte er sich insofern von Freud ab, als er danach strebte, eine Methode zu entwickeln, die eine Verkürzung der Therapien ermöglichen sollte. Zu diesem Zweck führte er verschiedene experimentelle Bedingungen in die von ihm durchgeführten Behandlungen ein; etwa das „forcierte Träumen“ oder das „forcierte Fantasieren“ oder eine bestimmte Assoziationsmethode. Später verließ er diese Techniken wieder und meinte, dass der Freud’schen Technik der Aufdeckung der inneren Widerstände der Vorzug einzuräumen sei und die Assoziationsmethoden diese Widerstände eher verhüllen als entschleiern würden. Das Verfahren, zu dem er schließlich gelangte, nannte er „aktive Psychoanalyse“. Da sich ihm etliche ärztliche Psychotherapeuten anschlossen, wurde das Institut für aktive Psychoanalyse in Wien gegründet.
In technischer Hinsicht ordnete Stekel in der Analyse der schöpferischen Intuition des Analytikers einen höheren Wert zu als der Übertragung. Letztlich schien ihm die Position des Analytikers der des Künstlers vergleichbar. Die Verkürzung der Behandlungsdauer könne und solle durch Aktivität aufseiten des Analytikers erreicht werden. Vieles an dieser Aktivität, wie sie Stekel beschrieb, gemahnt an die Technik der Individualpsychologie. Die rein passive Auffassung Freuds sei schuld daran, dass die Psychoanalysen zu lange dauerten. Der Analytiker müsse die Initiative ergreifen, das System des Patienten attackieren. Stekel erkannte, dass es vielfältiger Fähigkeiten des Analytikers bedarf, um diese Forderungen zu erfüllen. In diesem Sinne schrieb er:
„Ein Analytiker braucht das vereinte Geschick eines Arztes, eines Detektivs und eines Diplomaten.“ „Ich gehe von dem Grundsatz aus, dass uns der Patient das Wichtigste nicht eingesteht. Es ist der Intuition des Analytikers überlassen, dieses Wichtigste ausfindig zu machen. Der Kranke hat für sein Leiden ein Skotom. Die Aufgabe des Analytikers ist es, dieses Skotom zu heilen. Und diese Aufgabe erfordert wieder Aktivität des Analytikers, stellt an seinen Scharfsinn, seine Intuition und seine Einfühlung große Anforderungen. In dieser Aktivität liegt der größte Unterschied zwischen Freud und Stekel.“ (Stekel, 1931).
Die Auffassung vom therapeutischen Prozess, die der aktiven Psychoanalyse zugrunde lag, differierte radikal von der Freud’schen Vorstellung. Als Grundregel galt, dass man danach trachten müsse, mit der Analyse möglichst rasch zum Ziel zu kommen. Dabei ging man davon aus, dass die Hysterie den längsten therapeutischen Einfluss erfordere – etwa ein halbes Jahr –, andere Störungen (Angstparapathien) sollten nicht mehr als 4–6 Wochen in Anspruch nehmen; durch aktuelle Einwirkungen ausgelöste Parapathien sollten gar nicht tiefgreifend analytisch behandelt werden. Von diesem Zugang und dieser Methode behaupteten die Vertreter der „aktiven Psychoanalyse“, dass sie sowohl den aktuellen Konflikt als auch den Lebenskonflikt berücksichtige und der Intuition des Analytikers genügend Spielraum lasse.
Stekel meinte weiter, dass seine Methode über die Psychoanalyse hinausgehe und zur Psychosynthese und Psychopädagogik werde. Die Analyse könne und dürfe nicht Selbstzweck sein. Der Arzt solle nicht in der Position des passiven Zuschauers eines Dramas, das sich in der Seele des Kranken abspielt, verharren, sondern aktiver Erzieher, Berater, Lenker und Schöpfer eines verbesserten Lebensplanes werden.
Die Summe seiner Abgrenzung zu Freud und zu den Theorien der Psychoanalyse ist dem Aufsatz „Was mich von Freud unterscheidet …“, den Stekel 1931 in den „Fortschritten der Sexualwissenschaft und Psychanalyse“ veröffentlichte bzw. seinem Vorwort zu dem 1933 erschienenen Kompendium der aktiven Psychoanalyse „Der Seelenarzt“ und dem 1935 erschienenen Band „Fortschritte und Technik der Traumdeutung“ zu entnehmen. Regelmäßig verbreitete er in der Fachwelt seine Auffassung in den von ihm gegründeten Serienwerken und Zeitschriften „Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychanalyse“ und „Psychoanalytische Praxis“ und zuletzt in der gemeinsam mit Kronfeld veröffentlichten „Psychotherapeutischen Praxis“.
Fritz Wittels und Stekel
Als Einziger aus dem Kreis der Psychoanalytiker um Freud versuchte Wittels eine Ehrenrettung Stekels, wobei seinen Ausführungen über dessen therapeutische Technik deshalb besonderes Interesse zukommt, weil sie zu einem guten Teil auf Selbsterfahrung beruhen (Wittels hatte sich von Stekel analysieren lassen). Stekels Erfolge basierten nach Wittels auf seiner unvergleichlichen Fähigkeit zur Dechiffrierung unbewusster Symbolwelten: „Freud ist ein Genie, aber Stekel ist der bessere Traumdeuter“ (Wittels, 1924). Er beschrieb, dass Stekels „aktive Therapie“ auf dem „fortwährenden Anschießen des Patienten durch das Erschließen seiner Komplexe“ aufbaue. Dadurch werde die Psychoanalyse zu einem aktiven Angehen des Patienten, sie kreise ihn ein, er fühle sich im Innersten angeschossen und müsse schließlich „gestehen“.
Trotz aller Wertschätzung meinte Wittels jedoch auch, dass diese Methode gefährlich und in der Hand Untalentierter unmöglich sei.
Die Geringschätzung Stekels durch die Freud-Schule erschien Wittels grotesk. Inhaltlich und konzeptionell müsse man seine Arbeit auch nach seiner Abspaltung und nach der Entwicklung der aktiven Analyse als durchaus legitime Fortführung der Freud’schen Lehre anerkennen. Mit seinen Abweichungen von bestimmten Freud’schen Interpretationen habe sich, so Wittels, Stekel als ein „Befreier der Menschheit“ erwiesen, indem er sie aus dem Joch der Vererbung und von der Angst vor der Onanie befreite. Wittels Aussage beruht darauf, dass die differierende theoretische Position in der „Onaniefrage“ ein wesentliches Element in der Kontroverse zwischen Freud und Stekel war. Während Freud in der 1911/12 in der Wiener psychoanalytischen Gesellschaft ablaufenden Onaniedebatte einen sehr wissenschaftlich-objektiven, differenzierten Standpunkt vertrat, die angenommene Schädlichkeit der Masturbation stark relativierte und den Dramatisierern mit Verachtung begegnete, hielt er dennoch zunächst daran fest, dass die Onanie in die Ätiologie der „Aktualneurosen“ involviert sei. Stekel hingegen verstand sie – verkürzt interpretiert – als „Notwendigkeit“, die eng an den Zivilisationsprozess gekoppelt ist, und ordnete ihr positive psychoökonomische und gesellschaftliche Funktionen zu. Mit ihr würden antisoziale Triebwüsche im Raum der Phantasie gehalten und zur Abreaktion gebracht. Freud konnte einerseits diesem Standpunkt aus klinischer Sicht Einiges abgewinnen; dass Stekel mit ihm aber auch eine grundsätzliche Ablehnung des Konzepts der „Aktualneurosen“ verband und neurotischen Entwicklungen ausschließlich psychische Auslöser zugrunde legen wollte, war Zündstoff für die zunehmende Entfremdung der vormaligen Weggenossen. Stekels diesbezügliche These ist sowohl der populären Schrift „Keuschheit und Gesundheit“ wie auch seinem Band „Onanie und Homosexualität“ zu entnehmen.
Als originellen Aspekt des Stekel’schen Konzepts hob Wittels die Aufdeckung des Mechanismus der „Annullierung“ hervor, die neben der Verdrängung im Parapathiker wirksam sei, ja der Verdrängung entgegensetzt wirke. 1933 relativierte Wittels allerdings in einem Nachtrag zu seiner Freud-Biografie aus 1923 seine Aussagen über Stekel: Er habe diesen damals allzu sehr glorifiziert und sei heute zu einer anderen Bewertung gekommen.
Stekel als Literat und Journalist
Neben seiner ärztlichen Tätigkeit nahm Stekel auch aktiv teil an der Populärkultur. Er veröffentlichte regelmäßig Feuilletons im „Neuen Wiener Tagblatt“ und war künstlerisch produktiv. Er schrieb Gedichte und Theaterstücke und komponierte. Die meisten seiner Theaterstücke, zumeist Einakter, sind moralische Skizzen, Thesenstücke. Stekel versuchte in ihnen seine Auffassung von dem Zusammenspiel von parapathischer Entwicklung der Individuen und gesellschaftlichen Bedingungen, seine Auffassung von der „allgemeinen Erniedrigung des Liebeslebens“ in populärer Form zu gestalten. Die Stücke wurden auch aufgeführt; mit einem seiner Einakter, „Das moralische Prinzip“, bekam er Schwierigkeiten mit der Zensur.
Die Feuilletons wurden in Sammelbänden veröffentlicht. In ihnen widmete sich Stekel hauptsächlich der popularisierten Darstellung des Seelenlebens und des Einflusses unbewusster Mechanismen auf das Verhalten und die Charakterbildung. Die Titel, die für die Sammelbände gewählt wurden, verrieten bereits dieses Anliegen des Autors: „Der innere Mensch“, „Masken der Sexualität“, „Was am (im) Grund der Seele ruht“ … In den populären Texten gelangen ihm bisweilen recht eindrucksvolle und plakative Formulierungen wie jene, die diesem Aufsatz als Motto vorangestellt wurde. Damit trug Stekel sicherlich wesentlich zur populären Rezeption bestimmter Grundannahmen der Psychoanalyse bei, banalisierte aber auch und regte wohl auch eine Neigung an, „wilde Psychoanalyse“ als Gesellschaftsspiel zu betreiben. Von seinen professionellen Kollegen wurde dementsprechend die Propagandatätigkeit Stekels nicht uneingeschränkt begrüßt. Dennoch ist anzunehmen, dass das Bild, das in der breiten Öffentlichkeit von der Psychoanalyse vorherrschte, stärker von den Stekel’schen Darstellungen geprägt war als von den Vorstellungen der Freud-Gruppe, die in weniger populären Medien verbreitet wurden.
Stekel als Reformer: die gesellschaftspolitische Position
Stekel zählte Persönlichkeiten zu seiner Klientel, die radikale oder reformerische Positionen vertraten. So analysierte er 1914 Otto Gross und 1923 Alexander Neill. Die Gross’sche Analyse veröffentlichte er verdeckt als Fallstudie. Bemerkenswert ist, dass er sich gegen Jung stellte und die Diagnose Dementia praecox, die dieser bei Gross gestellt hatte, aufhob.
Stekel verstand sich auch als Sozialhygieniker und verbreitete in dieser Funktion allgemein medizinisches Wissen und psychoanalytische Vorstellungen in populärwissenschaftlicher Weise. Dazu nutzte er sowohl seine feuilletonistische Tätigkeit in Wien wie auch seine Beziehung zu Bircher-Benner und dessen auf einer Reform der Ernährung aufgebaute Reformbewegung. Unter dem Titel „Der Wendepunkt im Leben und im Leiden“ veröffentlichte der Züricher Arzt von 1923 an eine Monatsschrift, die sich direkt auch an die Nichtärztewelt wandte. Stekel beteiligte sich regelmäßig an diesem Verlagswerk, und von 1927 an erschienen mehrere seiner Schriften als „Wendekreis-Bücher“. Interessant ist, dass als 15. der „Wendekreis-Bücher“ Stekels Essay „Die moderne Ehe“ erschien, in dem er Gedanken äußerte, die ihn hinsichtlich der Kritik an der patriarchalen Ordnung, der Monogamie und der Darstellung der Auswirkung dieser sexualpolitischen Verhältnisse auf die Kindesgeneration in die Nähe von Otto Gross rückten, dessen Theorie vom Konflikt zwischen „dem Fremden und dem Eigenen“ er explizit in seine Darstellung aufnahm (ohne Gross zu zitieren). Auch hinsichtlich seiner Forderung nach einer anderen Form der Erziehung, in der das Kindeswohl Vorrang genießen sollte und das Recht des Kindes auf Liebe berücksichtigt werden müsste, finden sich Parallelen zu Forderungen von Otto Gross. Stekel glaubte aber im Gegensatz zu Gross nicht daran, dass der Weg zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen revolutionäre Maßnahmen erfordere. Er setzte auf Lebensreform und Alternativmedizin, die revolutionäre Einstellung erschien ihm in seiner Analyse von Gross als Ausdruck und Inhalt einer spezifischen parapathischen Entwicklung. Obwohl er das Problem der Parapathie im Individuum und in der Gemeinschaft als Auswirkung der Sexualmoral und der Kleinfamilie zu erkennen meinte, lehnte er das anarchistische Prinzip der „freien Liebe“ als Alternative ab, ebenso die Umgestaltungen im postrevolutionären Sowjetrussland. Jegliche Gestalt kollektiver Kinderbetreuung lehnte er strikt ab. Seine Zielvorstellung war die „freie Ehe“, die innerhalb eines langen Entwicklungsprozesses zwischen reifen Persönlichkeiten möglich sein sollte und die zwar kein „Nebeneinander“, wohl aber ein „Nacheinander“ kenne, das heißt nicht auf Lebenszeit geschlossen werden müsse. In der gerade lebenden Generation erschien ihm eine derartige Veränderung der Ehegestaltung allerdings unmöglich. Die „neue Ehe“ setze „neue freie Menschen“ voraus, und diese wieder bedürften einer Reform der Erziehung, die alle Fehler zu vermeiden versuche und die eine Erziehung zum Leben und eine Vorbereitung zur Ehe darstelle. Seine Vorstellungen hinsichtlich einer neuen Diätetik der Seele, die ihm als notwendige Vorarbeit für diese Entwicklung erschien, veröffentlichte er im „Wendepunkt“ und als „Wendepunkt-Bücher“. Die aktuelle gesellschaftliche Lage erschien ihm, wie Gross und anderen Nietzsche verbundenen Intellektuellen, als Übergangsperiode. Und wie Gross und Freud – um im Denkbezirk der Psychoanalyse zu bleiben – glaubte er an die Entwicklung der Menschheit aufwärts – trotz aller Rückschläge in die Barbarei vergangener Zeiten, wobei auch er der Psychologie und einer psychoanalytisch fundierten Pädagogik für diesen Entwicklungsprozess katalysatorische Bedeutung beimaß.
Stekel und die politische Lage
Stekel war in die internationale Therapieszene eingebunden und daher über die Entwicklung, die in Hitlerdeutschland hinsichtlich der Politisierung der Psychotherapie vor sich ging, gut informiert. Mit der „Psychotherapeutischen Praxis“ veröffentlichte er ein „Fluchtorgan“ der psychotherapeutischen Bewegung, das sich als Gegengewicht zum „Zentralblatt für Psychotherapie“, das unter Jungs Führung den „Anschluss“ vollzogen hatte, verstand.
Um der Zerstörung der Psychoanalyse durch den Nationalsozialismus entgegenzuwirken, regte er an, dass die Universität in Jerusalem den Schutz der bedrohten Psychoanalyse übernehmen solle. In diesem Sinne schrieb er an Chaim Weizmann, dass Jung eine „judenreine mörderische Haltung“ vertrete und schlug vor, dass man die Kompetenz seines eigenen Schülers Dr. Velikofsky nutzen könne, um in Jerusalem ein psychoanalytisches Zentrum für die aus Deutschland vertriebene Lehre zu kreieren.
Am 11. März 1938 floh Stekel nach Zürich, von dort nach London. Obwohl er von dieser Stadt begeistert war, wollte er dennoch in die USA emigrieren. Sein diesbezügliches Ansuchen wurde jedoch abgelehnt. Da sich britische Kollegen aufgrund seiner Vortragsaktivität in der Tavistock-Klinik für ihn einsetzten, gelang es ihm, für England eine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Im Nachruf auf ihn schrieb Crichton-Miller, dass er in England, so weit er dazu in der Lage war, praktizierte. Er habe sein Schicksal als Exilierter schwerer getragen als Freud.
Während seines Aufenthaltes in London geriet er zunehmend in einen depressiven Zustand. Dafür zeichneten mehrere Umstände verantwortlich: Zu seiner zunehmenden Vereinsamung trat hinzu, dass sich seine Zuckerkrankheit, an der er seit den 1920er-Jahren litt, verschlechterte und sich ein diabetisches Fußleiden entwickelte. Den Sieg Deutschlands über Frankreich im Juni 1940, der zur kampflosen Übergabe von Paris am 14. Juni führte, erlebte er als tiefen Schock. Aus den Briefen, die aus dieser späten Phase erhalten sind, geht hervor, dass er seinen Selbstmord monatelang plante und schließlich im Juni 1940 in Szene setzte.
Stekels Bedeutung ist innerhalb der psychoanalytischen Welt weitgehend unterschätzt. Es ist anzunehmen, dass er die populäre Rezeption der Psychoanalyse in Wien entscheidend (mit-)beeinflusste und damit nicht nur eine kontroversielle Strömung innerhalb der Entwicklung und Differenzierung der Psychoanalyse repräsentiert, sondern auch der breiteren und kulturhistorisch bedeutsameren gesellschaftlichen Kontroverse, die um die Psychoanalyse ablief, Inhalte zur Verfügung stellte und damit das Schicksal der Psychoanalyse in gesellschaftspolitischer Hinsicht mitbestimmte.
Die internationale Rezeption
Stekels Werk wurde zu seinen Lebzeiten international rezipiert und geschätzt. Es erschienen sowohl Übersetzungen in die französische wie auch in die englische Sprache, wobei die englischen Texte sowohl in England wie auch in den USA erschienen. Es wurden sowohl die klinischen Schriften wie auch einzelne seiner journalistisch-psychoanalytischen Textsammlungen in Übersetzungen veröffentlicht. Crichton-Miller, der Begründer der Tavistock-Klinik, widmete Stekel in seiner Darstellung der Psychoanalyse und ihrer Abkömmlinge ein eigenes Kapitel. Er gab der Überzeugung Ausdruck, dass Stekels Technik einen speziellen Weg in der Psychotherapie repräsentiere, der insbesondere solchen Patienten gerecht werde, die unter einem aktuellen ethischen Konflikt leiden (Crichton-Miller, 1945).
In den USA wurde die Stekel-Rezeption zunächst durch van Teslaar, einen Bostoner Arzt, und nach dem Zweiten Weltkrieg dann durch Emil Gutheil gefördert, der im Exil die „aktive Analyse“ praktizierte und lehrte und für die Herausgabe verschiedener Texte Stekels sorgte. Auch die posthume Veröffentlichung der Stekel’schen Autobiografie wurde von Gutheil besorgt.
Van Teslaar bezeichnete in seinem vielgelesenen Buch „An Outline of Psychoanalysis“, das zuerst 1924 erschien, Stekel als geistigen Erben von Freud, der wie kein anderer auf den Fundamenten aufzubauen verstehe, die Freud errichtet habe und meinte, dass die Bedeutung Stekels im englischen Sprachraum wohl noch wachsen werde (van Teslaar, 1924, 8 f.).
Wie groß der Einfluss tatsächlich wurde, ist schwer abzuschätzen. Eines aber ist interessant: Die Terminologie, die Stekel entwarf, ist in die Terminologie des DSM eingegangen, in dem die sexuellen Spielarten als „Paraphilien“ aufscheinen.
Dass Stekels Beitrag – außerhalb Wiens – nicht völlig in Vergessenheit geraten ist, lässt sich daran erkennen, dass sich als Downloads in digitalisierter Form fünf Schriften von Stekel finden („The Beloved Ego. Foundations of the new study of the psyche“ (die englische Übersetzung von „Das liebe Ich“), „Bi-sexual love: the homosexual neurosis“, „The depths of the soul, psychoanalytic studies“ (die englische Übersetzung von „Was im Grund der Seele ruht“), „Sex and dreams, the language of dreams“ (die englische Übersetzung von „Die Sprache des Traums“ und „The homosexual neurosis“) und dass der Gesamttext von „The Language of Dreams“ auch als CD-Rom erhältlich ist.
Auch im PEP-Web kann man eine Schrift von Stekel als „klassischen Text der Psychoanalyse“ erwerben (nämlich „Disguises of Love. Psychoanalytical Sketches“).
Links zu Volltexten bei archive.org:
Wilhelm Stekel: The Beloved Ego: http://www.archive.org/details/belovedegofounda00stekuoft
Wilhelm Stekel: Bi-sexual Love: http://www.archive.org/details/bisexuallovehomo00stekuoft
Wilhelm Stekel: The Depths of the Soul: http://www.archive.org/details/depthsofsoulpsyc00stekuoft
Wilhelm Stekel: Sex and Dreams: http://www.archive.org/details/sexdreamslanguag00stekuoft
Dokumente:
Ein Zeitzeuge: Josef Hynie
Die Reise zum Kongreß in Wien nutzte ich noch in anderer Weise für meine Vorbereitung in Sexuologie aus. Ich kam dort schon einige Tage vor dem Kongreß an und besuchte den Psychanalytiker Wilhelm Stekel. Ich hatte manches aus seinem zehnbändigen Werk „Störungen des Trieb- und Affektlebens“ schon kennengelernt. Ich wollte mir jedoch seine Arbeit mit den Patienten direkt ansehen. Deshalb kam ich als Patient mit vorgetäuschten Depressionszuständen. Stekel hat mich als Universitätsassistenten sehr freundlich und unter günstigen finanziellen Bedingungen aufgenommen. Er versprach mir jeden Tag eine einstündige therapeutische Sitzung. Nach der Aufnahme der Anamnese verordnete er mir, jeden Tag meine Träume aufzuschreiben. Ich mußte mich dann bei der Analyse hinlegen. Ich wußte, daß er jeden seiner Schüler analysieren wollte — und wollte dies selbst erleben. Nach drei Sitzungen war Stekel klar, warum ich gekommen war. Stekel hatte erkannt, daß ich seine Bücher studiert hatte. Er nahm mich als Schüler auf und führte seine aktive Analyse weiter durch.
Die Träume analysierte Stekel vom materiellen, psychologischen und sexuologischen Standpunkt aus. Ich wurde von dem Reichtum seiner Einfälle bei jeder Traumszene überrascht. Seine Erklärung war ein Kunstwerk; er war ein gottbegnadeter Dichter mit großer Phantasie und Intuition. Und er schrieb auch Gedichte, die nicht schlecht waren.
In einigen seiner Erklärungen fühlte ich eine starke Wahrheit. Wahrscheinlich brauchte er selbst viel Zeit dafür, den Sinn des betreffenden Traumerlebnisses zu erfassen. Das war Stekels aktive Methode, die er Psychanalyse (nicht Psycho-) nannte. Aus der Menge der Lösungsmöglichkeiten kann der Patient die für ihn geeignete auswählen. Das spart Zeit, und der Patient kann nicht nur die kausalen Beziehungen, sondern auch den Sinn seines Benehmens, das, was Adler Lebensstil nannte, begreifen. — Ich hielt es als Arzt für sehr wichtig, eine solche Analyse, solche Veränderungen der Gefühlszustände selbst zu erleben. Ich konnte danach die Wirkung der Analyse auf den Patienten besser verstehen.
Am Ende des 14tägigen Aufenthalts erklärte Stekel mich zu seinem Schüler.
Für die sexuologische Praxis war es für mich besonders wichtig zu erforschen, was man durch Stekels Methode bei bestimmten Homosexuellen feststellen kann. Sie sagen meistens, wie auch Hirschfeld betonte, daß sie nie in ihrem Leben eine positive Beziehung zu einer Frau, ausgenommen der eigenen Mutter, gehabt haben. Aber in den Träumen, die sie mitbringen, sieht man Andeutungen von heterosexuellen Beziehungen. Wenn es gelingt, durch Assoziationen mehrere solcher Erlebnisse zu erwecken, die aus dem Bewußtsein verdrängt waren, ist der Weg zu neuen derartigen Erlebnissen offen. Natürlich gilt dies aber eher bei neurotisch Bisexuellen als bei echten Homosexuellen.
Quelle: Zur Geschichte der Sexualforschung in der Tschechoslowakei In: „Sexualwissenschaft und Sexualpolitik“ (hg. von Rolf Gindorf und Erwin J. Haeberle). Berlin 1992, 91–117.
Josef Hynie war ein tschechischer Dermatologe, der nach einer Ausbildung bei Magnus Hirschfeld in Berlin in den Jahren 1929–1930 zunächst einen Lehrstuhl für Sexualpathologie in Prag innehatte. Später gründete er ein sexologisches Universitätsinstitut in Prag, als dessen Leiter er bis 1974 fungierte.
1944: Eine posthume Rezension der Konzeption der Aktiven Psychoanalyse durch H. M. Serota:
A brief review is presented of some of the contributions made by various authors to the problem of expediting psychoanalysis. Gutheil suggests a somewhat cryptic ‚reform of the technique of interpretation‘, especially a ‚simplification of dream interpretation‘. The analyst is supposed to merely abstract the psychodynamic factors of a dream without the ‚selective‘ associations of the patient to the parts of the manifest content. The analyst, Gutheil thinks, will by the method of Stekel secure a penetrating psychodynamic insight into the instinctive cravings, defenses, gratifications, anxieties, etc. An illustrative case is presented wherein the author’s own associations to the dream clarified his other available material. It would appear to be a truism that his twenty years of experience permits him to judge when ‚experience and intuition tell him that the opportunity has arrived‘ to make an active interpretation in the analysis. It is not, however, entirely clear how he, himself avoids the criticism which he levels at those who, ‚in their own free associations‘ use the older concepts of dream symbolism.
Quelle: Psychoanalytic Quarterly 15, 1946, 550.
Psychoanalysis and Brief Psychotherapy: Emil A. Gutheil. Journal of Clinical Psychopathology 6, 1944, 207–230.
Text: Alfred Springer, 2008
Redaktion: CD, 2008