Johann August Schülein (2014): Zur Kooperation von Soziologie und Psychoanalyse
[Textausschnitt aus einem noch nicht veröffentlichten Buch zum Kontakt zwischen Psychoanalyse und Soziologie]
5. Cui bono?
5.1. Zur Kooperation von Soziologie und Psychoanalyse
Der Kontakt zwischen Soziologie und Psychoanalyse bedeutet keinesfalls, dass soziologische Argumente durch psychoanalytische Argumente ersetzt, verdrängt, entwertet werden. Im Gegenteil: Es geht darum, dass soziologische Argumentationen stärker gemacht werden, indem sie an Stellen, die sie aus strukturellen Gründen nicht differenziert behandeln können, externe Kompetenzen aufnimmt und mit den eigenen vermittelt.
Dass sie überhaupt Kontakt aufnehmen soll(t)en, ergibt sich daraus, dass
- Die Soziologie unmittelbar weder ein differenziertes Subjektverständnis braucht noch hervorbringen kann und
- Die Psychoanalyse hoch relevante subjekttheoretische Modelle anbietet und damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von sozial relevanter Psychodynamik leistet.
Durch die Kooperation mit psychoanalytischen Sichtweisen kann die Reichweite des soziologischen Instrumentariums vergrößert und ergänzt werden. Es geht also darum, sich dort helfen zu lassen, wo man selbst nicht weiter kann, damit man die eigene Kompetenz besser nutzen kann.
Eingangs wurde bereits angesprochen, dass eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Paradigmen unter Umständen schwierig sein kann. Kooperation heißt immer, dass es gelingen muss, ein gemeinsames Objekt zu entwickeln, dass von beiden geliebt werden kann (um es emphatisch auszudrücken). Ohne eine starke Besetzung und die Bereitschaft, zu dem Projekt zu stehen, auch wenn es mühsam wird, hat es kaum Entwicklungschancen. Denn der Kontakt ist und bleibt dabei heikel. Generell gilt für konnotative Theorien (s.o.), dass sie durch Multiparadigmatik unter Legitimationsdruck stehen. Daher sind sie bedroht und tendieren dazu, Fremdperspektiven zu ignorieren, zu bekämpfen oder zu assimilieren, dh: in die eigene Logik zu transformieren. Das bringt meist keinen Gewinn. Kooperation ist dagegen voraussetzungsvoll. Sie verlangt ein hinreichend differenziertes Verständnis nicht nur des eigenen, sondern auch des anderen Paradigmas. Allein das ist fast schon unerreichbar angesichts der Notwendigkeit, im eigenen Fach auch nur einigermaßen den Überblick zu gewinnen und zu halten. Man bleibt stets ein Dilettant – in der eigenen Zunft wie in der anderen.
Dazu kommt, dass die Kooperation selbst mit Einschränkungen verbunden ist. Keine der beteiligten Seiten, keiner der beteiligten Akteure kann seine volle Kompetenz einbringen. Der kognitive Raum dehnt sich nicht aus, wenn sich mehrere Akteure darin befinden – er wird enger, wenn mehr untergebracht werden kann. Außerdem ist nicht alles verbindbar. Das reduziert die Möglichkeiten, das gesamte Spektrum des jeweils eigenen Fachs ins Spiel zu bringen. Das bedeutet, dass inter- und transdiziplinäre Diskurse auf Vereinfachungen und Reduktionen angewiesen sind. Die Beteiligten können nicht ihr gesamtes Potenzial einbringen, sondern müssen sich mit dem begnügen, was das gemeinsame Projekt braucht und aushält.
Dafür besteht jedoch auch nicht die Notwendigkeit, die Möglichkeiten des anderen Paradigmas vollständig mit zu nehmen. Nicht immer ist alles, was eine andere Perspektive bietet, relevant (weil vieles nach innen focussiert ist, also sich an internen Fragestellungen und der internen Theorielogik orientiert). Man kann also in gewisser Weise eigene Relevanzen als Selektionskriterium nutzen (solange damit nicht gerade die spezifischen Leistungen der anderen Perspektive aussortiert werden …). Zudem können die Angebote anderer Paradigmen ein Stück weit so „dezentriert“ werden, dass sie zum eigenen Bedarf passen (mit dieser Zumutung müssen dessen Exponenten zurecht kommen).
Es geht also darum, die für die eigene Sichtweise bzw. das jeweilige Projekt relevanten Perspektiven und Theoreme hervorzuheben. Welche das sind, muss für jede Fragestellung geprüft werden. Das Ergebnis wird daher jeweils anders aussehen. – Unabhängig kann man versuchen, die Perspektiven zu benennen, die als Grundlage und/oder als Hintergrund in jedem Fall relevant sind . –
Freud hatte in seinem Strukturmodell der Psyche (mit der Unterscheidung bewusst/vorbewusst/unbewusst), später mit der Strukturtheorie (Es/Ich/Über-Ich als gedachte Instanzen der Psyche) und seinen (unvollendeten) metapsychologischen Ansätzen (mit dem Vorschlag, psychisches Geschehen stets unter einem topischen, einem dynamischen und einem ökonomischen Gesichtspunkt zu betrachten) versucht, die Komplexität von Psychodynamik begrifflich zu bändigen. Man kann diesen Bändigungsversuch aufgreifen, wenn man die psychischen „Instanzen“ als vereinfachende „facon de penser“ versteht und sie als interferierende Teilprozesse konzipiert, bei dem
- „Es“ für biopsychisches Antriebspotenzial und sein Schicksal, für Bedürfniskonfigurationen und die daran beteiligten triebhaften (latenten) psychische Programme steht;
- „Ich“ für bewusstes Erleben und Handeln sowie für funktional unbewusste Formen der psychischen Verarbeitung von externen und internen Imperativen steht;
- „Über-Ich“ für normative Selektion, Legitimation und Steuerung sowie für Selbstwertregulation steht.
Die Freud’schen Instanzen stehen also für unterschiedliche Subsysteme mit eigenen Organisationsprinzipien, die sich biografisch unter sozialen Bedingungen entwickeln. Das Zusammenspiel dieser Instanzen ergibt sich im Fluss des psychischen Geschehens aus dem bewussten und unbewussten Erleben und Tun und bestimmt vom psychodynamisch aktiven Bedürfnisprofil, vom psychischen Konfliktprofil, von den Modi der Konfliktbewältigung und, damit verbunden, vom psychischen Funktionsniveau. Die moderne Psychoanalyse hat diese Perspektiven systematisch ausgebaut und zeichnet die Psyche als prinzipiell multimodalen und multidimensionalen autopoietischen Prozess:
- Sie operiert auf der Basis biografischer Entwicklungen, in deren Verlauf zugleich externe Realität importiert und verarbeitet und Binnenstruktur aufgebaut wird, wobei alle Niveaus und Modalitäten der Interferenz wirksam sind bzw. implementiert werden (Konditionierung, aktives Lernen, Identifizierung). Entsprechend kann die Psyche im Reiz/Reflex-Modus, in erworbenen und zugewiesenen Routinen und in Form von konzentrierter Themenzuwendung arbeiten und verfügt sowohl über „quick-and-dirty“- als auch über „slow-and-clean“-Leistungen.
- Das in Bezug auf Objekt, Ziel und Entwicklungsniveau offene biologische Antriebspotenzial wird biografisch formiert, was eine spezifische Konfiguration von körpernahen wie von psychischen Aktivitäten und Bedürfnissen mit einem bestimmten affektiven Profil mit Einschreibungen sozialer Programme (inklusive der darin virulenten Konflikte und Widersprüche) hervorbringt. „Motivation“ ist unter diesen Umständen stets komplex und heterogen.
- Der Austausch mit der Umwelt erfolgt aktiv und passiv. Erleben ist ein Modus der Kontaktaufnahme mit innerer und äußerer Realität, der passiv und aktiv zugleich ist und beide (qua Übertragung und Internalisierung) verbindet; es äußert sich in assoziativen Vorstellungen und Phantasien mit bewussten und unbewussten Anteilen. Handeln basiert auf einem komplexen Verarbeitungsprozess, der hohe Freiheitsgrade besitzt, der durch Umstände bestimmt wird und zugleich die Beziehung nach außen wie nach innen balanciert/balancieren muss.
- Prinzipiell kann die Psyche auf unterschiedlichen Niveaus (von archaisch bis differenziert) erleben handeln und denken. Sie kann sich dabei kontrolliert auf externe Objektlogik einstellen und sich mit Zielen, Mitteln und Interpretationen reflexiv auseinandersetzen; sie kann Realität symbolisch manipulieren, ihre Entwicklung antizipieren und daher strategisch handeln – im Sinne von Planen und von Täuschen.
- Denken verfügt über die Möglichkeit der aktiven Thematisierung und der Umsetzung bereit liegender Muster. Das Alltagsbewusstsein ist dabei eine Art von psychosozialer Routine, die es ermöglicht, mit geringem Aufwand (und den ad hoc verfügbaren Mitteln) innere und äußere Komplexität zu bewältigen; es setzt Kapazitäten frei, die für das Abtasten von Realität nach Kriterien der Relevanz und das Abarbeiten von relevanten Themen verwendet werden können.
- Die Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigungen des psychischen Funktionierens auf Grund von sozialen und Sozialisationsdefiziten und/oder aktuellem Druck ist (unterschiedlich) groß. Die Fixierung primitiver Modalitäten bzw. die Bereitschaft, auf primitivere Niveaus der Problembearbeitung zu regredieren führen zu dominanten und inflexiblen („deficient-and-fixed“) Handlungsprogrammen mit „primärprozesshafter“ Logik, die die Freiheitsgrade des Handelns einschränken, dabei aber sowohl Problem als auch Problembearbeitung sind.
- Psychische Prozesse können u.U. zugleich in unterschiedliche Sinnzusammenhängen stehen und Verschiedenes zum Ausdruck bringen. Dies kommt in ihren sozialen Emanationen zum Ausdruck: Überdeterminierte Handlungen bündeln heterogenes und komplexes Geschehen und imprägnieren damit soziale Realität (die ihrerseits Regressionsbereitschaft, Identifizierungsbedarf, Überdeterminiertheit provoziert und sie nutzt).
Die daraus resultierende Dynamik hat eine idiosynkratische und eine typische Logik. Für soziologische Fragestellungen ist vor allem das typische Profil relevant. Damit ist die Frage angesprochen, worin diese Relevanz besteht. Der psychischen steht die gesellschaftliche Komplexität gegenüber. Schon deshalb kann nicht einfach von einer bestimmten Form von Relevanz ausgegangen werden. Sie variiert allgemein mit der gesellschaftlichen Differenzierung (und ist spezifisch abhängig von den jeweiligen besonderen Umständen). Es gibt daher unterschiedliche Dimensionen der Beziehung von Gesellschaft und Psychodynamik, in denen beide Seiten aktiv und passiv beteiligt sind. Daher muss unterschieden werden, in welcher Form psychische Prozesse gesellschaftlich bestimmt, aktiviert und eingefädelt werden - und in welcher Form sie sich in soziale Prozesse aktiv einmischen und daher behandelt werden (müssen). Auch dazu einige vereinfachende Stichworte, in die die weiter oben dargestellten Diskussionen zum Thema aufgegriffen und systematisiert werden:
• Gesellschaft und Psychodynamik sind nicht identisch, aber nicht zu trennen: Psychodynamik und soziale Realität sind zwei Seiten derselben Medaille, weil sie sich wechselseitig bedingen und voraussetzen, ohne aufeinander reduzierbar zu sein. Man kann in einem weiteren Sinn von einer Art Komplementarität sprechen: Psychodynamik braucht einen sozialen Rahmen; soziale Realität braucht Treibstoff und Belebung.
• Soziale Realität formatiert autopoietische Psychodynamik: Psychodynamische Syndrome werden qua Sozialisation gesellschaftlich vorprogrammiert, mikrosozial entwickelt und situativ sozial gesteuert, aber sie entwickeln sich und operieren stets auf typische Weise idiosynkratisch. Das, was daraus resultiert, ist zudem bestimmt durch die Konflikte und Probleme der sozialen Programmierung und die Effekte der Zeitdifferenz zwischen Entwicklung und Aktualität.
• Psychodynamik ist Vermittlungsmedium: Psychodynamik ist nicht nur Bezugspunkt und Medium intrapsychischen Prozessierens – hält Leib und Seele zusammen –, sie ist auch ein Austauschmedium mit der Umwelt. Durch psychodynamische Verarbeitung wird soziale Realität zur subjektiven Wirklichkeit, die intern weiter verarbeitet wird; umgekehrt wird durch Psychodynamik soziale Realität mit spezifischer Subjektivität aufgeladen und auch intersubjektiv verbunden.
• Soziale Realität braucht Psychodynamik: Soziale Realität provoziert unvermeidlich Psychodynamik, weil diese eine unvermeidliche Bedingung und Begleiterscheinung von sozialem Handeln ist. Dabei ist sie auf bestimmte Formen von Psychodynamik angewiesen und entwickelt Strategien, diese zu stimulieren. Da dies jedoch kein geplanter und kontrollierter Prozess ist, entsteht mehr bzw. andere Psychodynamik als nur die vom Status Quo benötigte und erwünschte.
• Soziale Realität wird von Psychodynamik infiltriert: Soziale Realität ist einerseits mit der Entwicklung, Steuerung und Kontrolle von Psychodynamik beschäftigt. Andererseits ist sie von ihr imprägniert, weil in ihrer Entwicklung Psychodynamik wirksam war. So wirkt Psychodynamik auch indirekt, über die Themen und Formen, in denen sie zum Ausdruck kommt.
Stellt man sich soziale Realität als sozial-räumlich und zeitlich expandiert vor, so bedeutet dies zugleich, dass diese Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen. Nimmt man zur Illustration eine etwas erweiterte Version der (ungeliebten, aber pragmatisch brauchbaren) Unterteilung in Mikro-, Meso- und Makroebene, so lassen sich unterscheiden:
- Akteure: In dieser Dimension geht es diachron um die Entwicklung, Formierung und soziale Imprägnierung von Psychodynamik. Angesprochen sind damit die gesellschaftlichen Strategien der Beeinflussung von biografischen Entwicklungen bzw. deren konkreter Umsetzung in Primär- und relevanten Sekundärgruppen. Dahinter stehen makrosoziale Konzepte und Agenturen mit spezifischen Interessen und Einflussmöglichkeiten. Die Herausbildung von psychischer und sozialer Identität ist ein autopoietischer Prozess, der die externen Einflüsse mit der Eigendynamik psychischer Entwicklungen vermitteln. Das Ergebnis ist eine psychosoziale Identität, die über ein bestimmtes, psychodynamisch eingefärbtes Handlungsrepertoire verfügt, welches gesteuert und limitiert wird durch Bedürfnisprofil und die verfügbaren psychischen Ressourcen, durch reflexive Freiheitsgrade sowie die Resultate von Konflikten und deren Verarbeitung sowie die daraus resultierenden Festlegungen und Schwankungen im Funktionsniveau. Dieses Handlungsrepertoire ist eine situativ und systematisch verfügbare soziale Ressource, zugleich jedoch auch ein den sozialen Prozess beeinflussender und ihn beschäftigender Faktor.
- Mikrosoziale Realität: In Situationen ist Psychodynamik virulent und wird stimuliert. Akteure sind mit deren sozialen Ausstattung (in Form von präsenten Kognitionen, Regulationen und Einschreibungen in die materialen Gegebenheiten) sowie mit anderen Akteuren konfrontiert. Die Interaktion der situativen Faktoren aktiviert in den Akteuren das, was sie an präsenten sozialen Faktoren wahrnehmen und wie sie sie psychodynamisch verarbeiten; zugleich auch das, was andere Akteure in ihnen an Dispositionen aktivieren. Die Interaktion zwischen den Akteuren ist das Medium, in dem soziale Imperative realisiert und zugleich modifiziert werden. In der Interaktion wird die tatsächliche Gültigkeit von Normen etc. entschieden und damit ihre zukünftige Gültigkeit beeinflusst. Realisiert werden auch die individuellen Bedürfnisse und das, was sich in der Interaktion an neuen (psychodynamischen und sozialen) Optionen entwickelt. Dieser Prozess übersetzt Psychisches in Soziales und reformatiert Soziales psychodynamisch – in einzelnen Situationen und über deren Vernetzung.
- Mesosoziale Realität: Auf dieser Ebene ergeben sich durch Aggregationseffekte, aber auch durch die spezifische Qualität sozialer Realität spezielle Formen von Psychodynamik und spezielle Formen der Formierung von Psychodynamik. In Gruppen und Organisationen können sich transsituative psychodynamische Muster entwickeln, die zeitlich, räumlich, aber auch transpersonal wirksam sind. Dies ist ein Effekt des Sogs, der von vielen vektoriell ähnlichen Abläufen ausgeht, des Verstärkereffekt von stabilen sozialen Aggregationen, aber auch durch spezifische Konfigurationen, die in Gruppen, Organisationen und strukturieren sozialen Netzen entstehen können. Diese Muster enthalten und transportieren psychodynamischen Bedarf, gleichzeitig jedoch auch sozio-psychodynamische Syndrome, die das soziale Geschehen manifest und latent (in Form von Kognitionen, Regulationen oder dominanten Themen) mehr oder weniger bestimmen können. Gruppen- und Organisationsphantasien können der Ausdruck, aber auch die Verarbeitung etwa von Traumen oder Sehnsüchten sein; sie können sozial genutzt werden, aber auch soziale Strukturen zum Agieren von Psychodynamik bringen.
- Makrosoziale Realität: Gesellschaftliche Subsysteme, Populationen und Makrostrukturen sind der Rahmen, in dem sich mikrosoziale Realität abspielt und zugleich das Ergebnis dessen, was sich dort abspielt. Psychodynamik ist auf dieser Ebene eingeschrieben in die abstrakte Logik des Geschehens, wobei dies als Eigenproduktion und als Zuschreibung zu sehen ist. Wegen ihres sozialen Gewichts sind sie mächtige Objekte, die als solche genutzt werden und wirksam sind. Das Abstraktionsniveau von Zuschreibungen erleichtert dabei den projektiven Umgang – bewusste und unbewusste Phantasien, die „die“ Lehrer betreffen, sind nicht vom Einzelfall abhängig und bleiben dadurch auch kontrafaktisch effektiv. Als mächtige Objekte fungieren Subsysteme und Populationen orientierend; sie geben dadurch sowohl nach innen als auch nach außen Halt. Die im kognitiven und normativen System eingeschriebenen Formen des Prozessierens tragen zur Normalisierung auch von Psychodynamik bei, was die unteren Ebenen – den psychischen Prozess von Akteuren, aber auch das Operieren von Situationen, Gruppen und Organisationen vom Begründungs- und Verarbeitungsaufwand entlastet (und damit deren Spielraum einengt).
- Gesellschaft: Gesellschaften sind induktiv das Ergebnis des sozialen Geschehens in einem Geltungsbereich, der dadurch konstituiert wird und deduktiv ein auf sozialem Geschehen basierender Kontext, dessen Profil alles, was sich darin befindet, durch sein Gewicht und durch die Integrationsfunktion bestimmt. Dies gilt mutatis mutandis auch für Psychodynamik. Sie entsteht als abstraktes Profil einer Gesellschaft durch die auf den unterschiedlichen Ebenen aktiven und erzeugten psychodynamischen Prozesse. Dieses abstrakte psychodynamische Profil enthält die genannten Aspekte (des sozialen Bedarfs, der sozialen Definition, der Konfliktdynamik und –bearbeitung, der psychischen Syndrome und ihrer sozialen Formen etc.) in abstrakter und mehr oder weniger imperativer Form. Sie enthält sie dadurch jedoch auch in gebrochener Form – inklusive aller Widersprüche, sozialer Gegensätze, regionaler und historischer Differenzen. Wie die soziale ist auch die psychodynamische Einheit von Gesellschaft eine Einheit von Differenzen und hält sie/sich dadurch in Bewegung. Dadurch ist das psychodynamische Profil einer Gesellschaft orientierend, aber ohne Lokalität und Eindeutigkeit ; es bewegt sich als Teil und Gegensatz mit ihr.
Es ist evident, dass in dieser Perspektive die Interferenz sozialer und psychischer Prozesse nicht nur in unterschiedlichen Bereichen und Dimensionen, sondern auch auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden und daher auch zeitlich versetzt sind bzw. in unterschiedlichen Zeiträumen ablaufen. Psychodynamik existiert und prozessiert daher in verschiedenen Formen und Prozessen. Daraus ergibt sich eine Gesamtlogik, die ein Mit-, Gegen- und Nebeneinander ebenso einschließt wie Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit.
Das Verhältnis von sozialer Realität und Psychodynamik muss daher als dialektischer Prozess mit einer Vielzahl von Vermittlungen (im Hegel’schen Sinn), Transformationen und „reentrys“ verstanden werden. Insgesamt ergeben sich daraus/darin multiple Austauschprozesse und Interferenzen, die ein hohes Maß an Variabilität besitzen. – Dies hängt jedoch nicht nur mit der internen Differenzierung zusammen. Dazu kommt entscheidend, dass das quantitative und qualitative Verhältnis von sozialer Realität und Psychodynamik nicht immer gleich ist. Das Spektrum der möglichen Dosierungen und Mischungen reicht von Psychodynamik, die sozial kontrolliert und diszipliniert als kompatibles und fungibles Hintergrundgeschehen aktiv ist bis zu sozialen Prozessen, die von virulenter Psychodynamik getrieben und gesteuert wird.
Dies alles auch nur im Ansatz darzustellen, ist ein Thema für sich. Ich beschränke mich hier auf einige Beispiele. Im nächsten Abschnitt soll am Beispiel „Handlung“ die Möglichkeit einer theoretischen Erweiterung und Ergänzung eines soziologischen Begriffs diskutiert werden. Danach folgt der Versuch, an Hand einer prominenten soziologischen Studie, die in gewisser Weise alle Ebenen des sozialen Geschehens anspricht (Goffmans „Asyle“), zu zeigen, wo psychodynamische Perspektiven sinnvoll zur Entwicklung des Konzepts beitragen können. Schließlich möchte ich am Beispiel „Kaufen“ verdeutlichen, wo und wie ein psychodynamisches Verständnis zum Verständnis von Aspekten eines (in diesem Fall: sozioökonomischen) komplexen Feldes hilfreich sein kann.
5.2. Handeln
5.2.1. Phasen des Handelns
Es gibt eine Reihe von Ansätzen, in denen Handeln als eine Abfolge von spezifischen Phasen konzeptualisiert wird. Beispielsweise hat H. Esser auf der Basis des „Rational-Choice“-Ansatzes ein Konzept von Handlungsphasen vorgelegt. Dabei unterscheidet er drei Stufen der Handlungswahl: „Die Kognition der Situation, die Evaluation der Konsequenzen bestimmter Handlungen und schließlich die Selektion einer bestimmten Handlung nach einer bestimmten Regel“. (1990, 232) Die Kognition erfasst - im Rahmen kognitiver Prozesse - die Situationsumstände, die Evaluation bewertet die sich daraus ergebenden Handlungsalternativen, wobei „SEU-Werte“ kalkuliert werden, die dann verglichen und nach dem Prinzip der Maximierung von Nutzen selegiert werden. - Esser preist dieses Konzept als ebenso einfach wie anschlussfähig. Genau dies ist daran problematisch: Es ist so einfach und grob, dass es handlungstheoretisch völlig blass und indifferent bleibt; alles umfasst und dabei nicht viel mehr als umformulierte Selbstverständlichkeiten bietet.
Differenzierter angelegt sind Überlegungen, die G. H. Mead und A. Schütz angestellt haben. Mead (1969, 102ff) unterscheidet vier Phasen:
- Handlungsimpuls;
- Wahrnehmung;
- Manipulation;
- Handlungsvollendung.
Damit legt er ein Konzept vor, in dem es um die intrasubjektive Verarbeitung von Handlungs-impulsen geht. Dabei ist „Wahrnehmung“ auch ein aktiver Prozess, in dem bereits die Hand-lungsmöglichkeiten mitpräsentiert sind. Im Zusammenhang mit der „Manipulations“-Phase spricht Mead von „innerer Konversation“ und dem Zusammenspiel von subjektiver Aktivität und sozialem Selbst (118f).
Schütz (1971) hat in seiner Skizze der Relevanz-Problematik einen ähnlichen Ansatz vorgeschlagen. Er beschreibt, wie in einem unstrukturierten Feld ungebrochener Vertrautheit thematische Relevanz (die auferlegt, aber auch subjektiv – „freiwillig“ - generiert sein kann) für eine Gliederung in Thema und Horizont sorgt und einen rekursiven Prozess in Gang setzt, in dem thematische Relevanz Auslegungsrelevanz verlangt (was auf den habituellen Wissensbesitz verweist), die wiederum an Motivationsrelevanz gebunden ist, wobei „echte Weil-Motive“ den entscheidenden biografischen Hintergrund für die Auswahl von Handlungen darstellen (84).
Beide Konzepte entwerfen eine „intrapsychischen Interaktion“. Dieses Exposé ist für den Versuch einer handlungstheoretischen Integration von soziologischen und psychoanalytischen Perspektiven besonders geeignet, weil es auf die Vermittlung verschiedener Teilprozesse ausgerichtet ist. - Folgt man den Anregungen von Mead und Schütz, so lässt sich der Prozess der Handlung wie folgt unterteilen:
- Handlungsgleichgewicht und Handlungsaufforderung
- Intrapsychische Konstitution und intrapsychische Verarbeitung
- Entwicklung eines Handlungsentwurfs
- Umsetzung des Handlungsentwurfs in Aktion.
Es bedarf keiner ausdrücklichen Betonung, dass diese Unterteilung nicht empirisch zu verstehen ist, sondern nur zu analytischen Zwecken vorgenommen wird und entsprechend idealisiert ist. Es wird vereinfacht und auseinandergerissen, was empirisch wesentlich komplexer und kohärenter ist und mit einer Geschwindigkeit abläuft, die jedem Darstellungsversuch spotten, abläuft. –
5.2.2. Handlungsgleichgewicht und Handlungsaufforderung
Die Annahme eines Handlungsgleichgewichts als Ausgangspunkt von Handlungen ist fiktiv und hat hier nur Kontrastfunktion. Empirisch wäre die Vorstellung eines Fließgleichgewichts angemessen, also eines Gleichgewichts, welches keinen Nullpunkt hat, sondern ständig in Bewegung ist. Da es hier jedoch vorrangig um die Markierung des Übergangs zu einem (höheren) Niveau der Aktivität geht, genügt der Hinweis darauf, dass, wie Schütz es formuliert, ohne „thematische Relevanz“ auch keine Handlung initiiert wird. Solange es keine relevanten - als relevant erlebbaren - Themen gibt, gibt es keinen Grund zum Handeln.
Suspendiert wird dieses (fiktive) Handlungsgleichgewicht durch Ereignisse. Ob dies „äußere“ oder „innere“ sind, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist, ob sie Handlungsrelevanz gewinnen (können), ob sie also die objektive Qualität einer Handlungsaufforderung bekommen. Bereits an dieser Stelle ergeben sich erhebliche theoretische Probleme: Ist diese Qualität, eine „Handlungsaufforderung“ zu sein, Eigenschaft des Ereignisses selbst oder wird sie erst durch die subjektive Zuwendung generiert? Folgt man hier Schütz, so lässt sich sagen: Beides ist der Fall und möglich. Ein regressus ad infinitum lässt sich vermeiden, wenn man die kausale Abfolge durch wechselseitige Bedingtheit ersetzt, also davon ausgeht, dass Objektqualität subjektiv rezipiert werden muss, während subjektive Konstitution einen Realitätsbezug (inklusive objektiver Relevanzstrukturen) voraussetzt.
Dabei kann man von einem komplementären Verhältnis ausgehen. Sicher impliziert soziale Realität auch eine soziale Relevanzordnung, die, folgt man Meads Überlegungen, im „Me“ (wie gebrochen auch immer) psychisch präsent ist. Mit der Relevanzordnung ist auch eine Verteilung von subjektunabhängigen Aufmerksamkeitswerten verbunden, die das handelnde Subjekt zumindest zur Auseinandersetzung zwingen - was bereits einen Handlungsablauf impliziert. Andererseits ist die subjektive Relevanzordnung in keiner Weise mit der sozialen identisch. Ganz abgesehen davon, dass kein Sozialisationsprozess bloße Kopien erzeugt, ist die subjektive Reproduktion objektiver Gegebenheiten immer ein prinzipiell davon geschiedener Prozess. Er gliedert sich zudem in generelle Tendenzen, in deren konkreter Realisierung sich neben der Eigendynamik der Subjektstrukturen die akzidentellen Umstände der Situation einschreiben. -
Die Destabilisierung des Gleichgewichts durch Ereignisse, die Handlungsrelevanz besitzen und/oder zugeschrieben bekommen, zieht daher unvermeidlich einen Prozess der Aufbereitung nach sich. Dies ist, sieht man diesen Übergang aus der Sicht eines Subjekts, welches von Ereignissen betroffen wird, ein rezeptiver Vorgang. Sieht man ihn aus der Sicht des aktiven Subjekts, so handelt es sich um einen konstruktiven Prozess. Unter welcher Perspektive auch immer: Jede Handlungsaufforderung ist identisch mit dem Zwang zur (Re-)Aktion. (Re-)Aktionen liegen jedoch nicht als Fertigprodukte bereit, sondern werden generiert. Insofern provoziert sie einen Prozess der Verarbeitung - wobei dieser Prozess bereits mit der Identifizierung der Handlungsaufforderung begonnen hat. -
Aus diesem Grund ist die Realitätsverarbeitung nicht eine „Abfolge“ - erst „Wahrnehmung“, dann „Verarbeitung“. Beide sind zwei Seiten derselben Medaille; Wahrnehmung bedeutet zu-gleich intrapsychische Konstitution der Realität. Deshalb sind Wahrnehmung einer Handlungsaufforderung und der intrapsychische Prozess der Verarbeitung dieser Handlungsaufforderung nicht zu trennen. Darauf weist Mead hin, wenn er betont, dass bereits in der Wahrnehmung das gesamte Spektrum an Handlungsalternativen mitaktualisiert ist. Auch Schütz hebt hervor, dass zwischen den verschiedenen Relevanztypen ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis besteht. In der Tat ist unwahrscheinlich, dass die Kontaktaufnahme mit und die Verarbeitung der Realität verschiedenen Prinzipien folgt. Schon daher ist eine teilweise Identität bzw. eine funktionelle Kommunikation zwischen beiden Teilprozessen gegeben, so dass lediglich darstellungstechnische Gründe eine sukzessive Diskussion legitimieren.
5.2.3. Intrapsychische Konstitution und intrapsychischer Prozess
„Wahrnehmung“ steht für die Phase des Handlungsprozesses, in dem eine Veränderung der Situation vom Subjekt registriert und identifiziert wird. Registrierung bedeutet, dass durch passives Erleben und/oder aktive Zuwendung die Veränderung in der situativen subjektiven Identität zum Thema wird; Identifizierung heißt, dass die registrierte Veränderung eine sinnhafte Struktur gewinnt.
In weiten Bereichen der Soziologie ist inzwischen Konsens, dass zumindest die Identifizierung nur als aktive subjektive Leistung verstanden werden kann. Die meisten theoretischen Ansätze gehen - in verschiedener Form - davon aus, dass Wirklichkeit subjektiv (und sozial) nicht (nur) durch die Objektlogik bestimmt wird, sondern (vorrangig) als Konstruktion zu verstehen ist. Allerdings sind die damit erforderlich werdenden Überlegungen, wer oder was konstruiert, noch nicht weit gediehen:
- Der Hinweis auf (qua Sozialisation übernommene) soziale Muster der Wahrnehmung tendiert dazu, das Subjekt in dieser Hinsicht zu „entmündigen“, weil die Konstruktion bereits als Fertigprodukt vom sozialen Milieu übernommen wurde und nur aktualisiert wird. Daher enthalten Variationen dieses Modells auch keine Vorstellung, wie subjektive Konstruktionen generiert werden.
- Rationalitätszentrierte Ansätze gehen meist davon aus, dass die Realität „objektiv“ wahr-genommen wird, unterstellen also eine (rational) funktionierende Kognition, die problemlos evaluierbare Ergebnisse liefert. Dadurch verschiebt sich das Problem auf die Reichweite der Kognition und reduziert sich beispielsweise auf die Frage der Vollständigkeit der Information bzw. der Informationsbeschaffungskosten. -
Beide Modelle kranken vor allem daran, dass sie nur das erklären (oder genauer: reformulieren), was nicht weiter erklärungsbedürftig ist. Soweit Wahrnehmung strikt gesellschaftlichen Vorgaben oder einem Kalkül folgt, ist Wahrnehmung als Transformation von Realität kein relevantes Thema. Im ersteren Fall ist im Grunde keine Realitätskonstruktion erforderlich - sie wird nur reproduziert -, im zweiten beschränkt sie sich auf eine identifizierbare Kosten-Nutzen-Rechnung. Beide Ansätze beschränken sich daher auf die Handlungsabläufe, die ohnehin evident sind. Dass Subjekte Regeln befolgen und dass sie gegebene Handlungschancen erkennen und vergleichen können, ist eine Überlebensvoraussetzung und lässt sich ohne weiteres mit Hilfe der grundlegenden Untersuchungen von Piaget und seinen Nachfolgern erläutern.
Das interaktionistische Paradigma geht an diesem Punkt weiter, weil und wo es a priori davon ausgeht, dass Wahrnehmung Teil einer Handlungssequenz ist, in der Wirklichkeit in die Erfahrungswelt eines Subjekts eingeordnet wird (wobei diese ihrerseits mit der anderer Subjekte koordiniert ist). Damit ist Wahrnehmung ausgerichtet an komplexen Handlungsabläufen und an der situativen subjektiven Identität - mit ihren zwei Seiten: die der persönlichen Idiosynkrasie (I) und der sozialen Erfahrung/Programmierung (Me). Das heißt: In der Wahrnehmung drückt sich dezidiert eine identitätsgebundene Leistung des Subjekts aus, die mit dem Status Quo verbunden ist. - Auch Schütz bietet eine ähnliche Perspektive an. Bei ihm wird die thematische Relevanz auf doppelte Weise und in wechselseitiger Steuerung zweier Faktoren konstituiert: auf der einen Seite steht der Wissensvorrat (stock of knowledge at hand), auf der anderen sind es die echten Weil-Motive, die Handlungen in Gang setzen und halten. Echte Weil-Motive sind für ihn lebensgeschichtlich erworbene Orientierungen, die auf Erfahrungen, die mit Gefühlsqualitäten verbunden sind, basieren (1971, 89ff). Dieser Ansatz hat eine Weiterentwicklung gefunden in verschiedenen Konzepten des „Alltagsbewusstseins“, die noch schärfer hervorheben, dass Wahrnehmung vor allem von der Funktion der Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit gesteuert wird. Das „Alltagsbewusstsein“ ist „egozentrisch“, geht also von der hic-et-nunc-Welt des Subjekts aus, und nimmt Wirklichkeit in dieser Selektivität und so wahr, wie sie sich aus dieser Perspektive darstellt. Die egozentrische Perspektive des Alltagsbewusstseins ist jedoch vorrangig eine der emotionalen Befindlichkeit: der Situation, Bedürfnisse, Stimmung etc.
Auch bei Mead und Schütz sowie ihren Nachfolger bleibt jedoch nicht nur unklar, wie die subjektiven Aktivitäten konstituiert werden, sondern auch, über welche Modalitäten sie realisiert werden. Hier kann die Psychoanalyse weiterhelfen. Dies hatte Schütz bereits gesehen, als er bei der Analyse von echten Weil-Motiven auf das psychoanalytische Modell der biografischen Verursachung von Idiosynkrasien verwies. Allerdings sah er darin den Sonderfall pathologischer Entwicklungen (wobei er nur auf die - begrenzten - Möglichkeiten der frühen Psychoanalyse zugreifen konnte).
Bei Freud findet sich jedoch bereits das Konzept, welches für eine Erweiterung des soziologischen Verständnisses von Wahrnehmung besonders geeignet ist: die Theorie der Übertragung (z. B. GW VIII, 363ff). Er stellte fest, dass Patienten in der therapeutischen Beziehung neurotische Beziehungsmuster reproduzieren. Übertragung findet jedoch nicht nur dort statt, sondern ist ein genereller Modus der Wahrnehmung. Die „Normal-Übertragung“ unterscheidet sich quantitativ wie qualitativ von der neurotischen Zuspitzung, ist jedoch strukturell identisch. – Das Konzept der Übertragung besagt im Kern, dass in der Wahrnehmung reales Geschehen mit Hilfe intrapsychischen Geschehens erschlossen und codiert (bzw. verschlüsselt) wird. Reale Ereignisse werden mit intrapsychischem Erleben in Verbindung gebracht, an ihnen kristallisieren sich innere Objekt- und Beziehungsmuster, die neben kognitiven immer auch psychische Anteile enthalten, in denen sich deren biografisches Schicksal (inklusive aller Konflikte) spiegeln .
Dass Wahrnehmung keine „Abbildung“ von Realität ist, ist lange bekannt (vgl. Skidmore 1976). Das Übertragungs-Konzept gibt der Einsicht, dass Wahrnehmung „verzerrt“ werden kann, eine Basis, die verdeutlicht, wie und warum Affekte und Phantasien mit realen Sachverhalten verbunden werden bzw.: Wie und warum reale Sachverhalte sich in spezifische Vorstellungen verwandeln.
So gesehen kommt es also durch Ereignisse, die den Status Quo ändern, zu einer intrapsychischen Resonanz, bei der die die Realitätsprüfung mit Realitätsformatierung durch Psychodynamik verbunden ist. Da die Psychoanalyse dabei prinzipiell von der Heterogenität und multiplen Struktur psychodynamischer Prozesse ausgeht, besteht in dieser Interpretation keine Notwendigkeit, von einem in sich logisch geschlossenen und/oder eindeutigen Wahrnehmungsvorgang auszugehen. Im Gegenteil: Es ist wahrscheinlicher, dass Ereignisse unterschiedliche Resonanz auslösen. Übertragung realisiert die gesamte (widersprüchliche) psychische Reaktionsbereitschaft, konnotiert entsprechend komplex und operiert zugleich auf verschiedenen Niveaus und mit unterschiedlichen Konnotationen. Die Wahrnehmung erstellt also kein eindeutiges, sondern ein multiples Bild der Realität, das vielfältige Implikationen für den weiteren Handlungsprozess mit sich bringt: Subjekte regen sich auf verschiedenen Ebenen in verschiedenen Dimensionen an, wenn sie Ereignisse wahrnehmen. Damit ist auch gesagt, dass Handlungsaufforderungen, selbst wenn sie eindeutig und monologisch sein sollten (was, wie noch diskutiert wird, nicht der Fall sein muss), dennoch multiple - und widersprüchliche - Resonanzen auslösen kann. Entsprechend sind Situationen, Personen und Sachen im Erleben auf andere Weise vielfältig und komplex, weil sich an ihnen Hoffnungen, Befürchtungen, Erfahrungen verschiedener Art focussieren. - Eine monologische Wahrnehmungstheorie ist daher zu vereinfachend.
Mit Hilfe des Übertragungs-Konzepts kann der Gedanken, Wahrnehmung werde durch die - komplexe - situative Befindlichkeit der Identität bestimmt, differenziert werden. Dabei bietet sich nicht nur ein Modell des „wie“, sondern auch Vorstellungen über das „was“ dieses Realitätskontakts an. Zunächst indem sie auf die biografischen Bedürfniskonfigurationen und die dahinter stehenden „Triebschicksale“ verweist. Aus dieser Sicht erscheinen Bedürfniskonfigurationen als Ausdruck einer Entwicklung, die Konflikt und zugleich die Modi der Konfliktbewältigung zum Ausdruck bringt. Aus psychoanalytischer Perspektive sind Bedürfnisse und die mit ihnen verbundenen Konflikte Organisatoren der Wahrnehmung, die stets mitlaufen. Das heißt: Wahrnehmung ist mehr oder weniger Ausdruck aktualisierter psychodynamischer Themen und der Art, wie sie subjektiv bearbeitet werden. Diese subjektive Bearbeitung schließt neben den (bewussten und unbewussten) Bedürfnissen sowohl intentionale als auch funktionale Ich- und Über-Ich-Leistungen ein, wobei die funktionalen im Vordergrund stehen. Unter funktionalen Leistungen versteht die Psychoanalyse vor allem die psychischen Mechanismen, die für Konfliktverarbeitung und Identitätsbalance sorgen. Dabei sieht sie diese Leistungen selbst als problematisch, weil sie pathologisch arbeiten, also Probleme auf destruktive Weise behandeln.
Das wichtigste (theoretisch allerdings noch nicht ausreichend bearbeitete) Konzept in diesem Zusammenhang ist das der Abwehrmechanismen (vgl. A. Freud 1982). „Abwehr“ bedeutet, dass inkompatible/überfordernde Themen/Probleme intrapsychisch entschärft werden. Dabei werden durch psychisches Prozessieren die Themen/Probleme in fixierte/automatisierte Formen gebunden und dadurch neutralisiert. Sie verlieren ihre primäre Brisanz, bleiben jedoch als rigides psychisches Klische (Lorenzer), in der sowohl das Problem als auch die Abwehr wirksam sind, erhalten: Das Klische dominiert Wahrnehmung und Handlung, wo es aus inneren und äußeren Gründen aktualisiert wird.
Die psychoanalytische Theorie bietet ein Modell der Entwicklungsstufen dieser Leistungen an, die sie entlang des biografischen Niveaus der Genese unterscheidet. Projektion und Spaltung gehören nach diesem Modell zu den primitiven Abwehrmechanismen. Wo sie dominieren, wird Wirklichkeit systematisch verzerrt wahrgenommen, weil reales Geschehen von primär-prozesshaften Mustern - also intrapsychischem Geschehen - überlagert wird. Ihre Dominanz führt daher zu einer tatsächlichen Konstruktion einer idiosynkratischen Welt, die auf Realität keine Rücksicht nimmt: Wahrgenommen wird immer nur die eigene Psychodynamik. Das schließt den Wahrnehmenden aus der „Wahrnehmungsgemeinschaft“ aus. - Differenziertere Abwehrmechanismen (wie etwa Affektneutralisierung, Affektumkehrung, Rationalisierung) lassen Realität zu, manipulieren sie aber nach Maßgabe der Konfliktdynamik, indem sie hinzufügen, weglassen, auf besondere Weise konnotieren. Realität wird also aufgegriffen, aber nach idiosynkratischen Regeln geordnet. - Eine „reife“ Konfliktbewältigung basiert dagegen auf der Trennung zwischen Objekt und Erleben: Das schließt nicht aus, dass verzerrende Einflüsse auf Auswahl und Konnotation sich bemerkbar machen, aber sie können als solche identifiziert und intrapsychisch kontrolliert werden. Freud spricht in diesem Zusammenhang von der Dominanz des „Realitätsprinzips“.
Die klassische Theorie der Abwehrmechanismen war noch zu eng und einseitig auf Trieb/Umwelt-Konflikte konzentriert. Die moderne Psychoanalyse hat neben der klassischen Konzeption von Triebkonflikt/schicksal und dessen Bewältigung eine beziehungstheoretische Perspektive gestellt. Damit wird hervorgehoben, dass der Kontakt zur Welt vor allem mit den inneren Objekt- und Selbstrepräsentanzen zusammenhängt: Die Beziehung zur Objektwelt ist vorrangig das Ergebnis der inneren Bilder von dieser Welt und dem damit verbundenen Selbstbild. Neben dem (Trieb-)Konflikt und dessen psychischer Bewältigung wird hier hervorgehoben, dass das psychische Geschehen nicht nur der Niederschlag einer (konfliktträchtigen) Beziehungsgeschichte ist, sondern der psychische Prozess durch (bewusste wie unbewusste) Konzepte der eigenen Identität und der Objektwelt integriert wird. Auch diese Perspektive geht davon aus, dass Objekt- und Selbstrepräsentanzen einer biografischen Entwicklung unterliegen und entsprechend auf unterschiedlichen Niveaus aggregiert sein können. Primitive Objekt- und Selbstrepräsentanzen sind (als Resultat früher Beziehungsstörungen) geprägt von Inkonsistenz und Fragmentierung, von undeutlichen Grenzen (bzw. Grenzüberschreitungen nach innen wie außen) und ebenso extremen wie kippenden Qualifizierungen (vom Größenwahn bis zur Selbstvernichtung). Entwickeltere Objekt- und Selbstbilder sind autonomer, konsistenter und differenzierter; können also Objekte komplexer verarbeiten erlauben entsprechen passendere Konnotationen von Realität und Vorstellungen. Allerdings ist die Aufladung mit unbewussten Phantasien zumindest teilweise so ausgeprägt, dass ihre Logik dominiert, so dass reales und psychisches Objekt verschwimmen. Reife Objekt- und Selbstbilder sind nicht notwendig konfliktfrei, setzen aber ein bestimmtes Maß an Konfliktkontrolle und Anerkennung der Differenz zwischen Objektbild und Objekt voraus. - Auch hier ist der empirische Normalfall eine Mischung aus den verschiedenen Niveaus, so dass in der Wahrnehmung neben primitiven Objekt- und Selbstbildern stehen (können). Die beziehungstheoretische Konzeption stellt insofern eine Ergänzung und Erweiterung des klassischen Exposés dar, als sie die Dynamik komplexer Konfigurationen sowie die interaktive Dimension mit ihren unbewussten Objekt- und Selbstkonzepten stärker einbezieht. -
Diese Weiterentwicklungen umfassen ein so breites Spektrum von psychischen Leistungen, dass man – in Anlehnung an das „coping“-Konzept - besser von Bewältigungsmechanismen spricht. - Auf jeden Fall kann diese Perspektive über die bloße Konstatierung von Wahrnehmungsverzerrungen hinaus erläutern, womit sie zusammen hängen. Dabei kann auch der nicht-pathologischen Normalfall von Wahrnehmung eine Mischung der verschiedenen Niveaus enthalten, d. h. primitive und differenzierte Formen der Abwehr sind mit realitätsgerechter Wahrnehmung amalgamiert. Das erklärt, warum situativ und systematisch korrekte Wahrnehmung und paranoide Vorstellungen amalgamiert sein können, warum ein hohes Entwicklungsniveau in einem Bereich mit einer primitiven Organisation der Wahrnehmung in einem anderen kompatibel ist. Dieser Sicht ist für soziologische Fragestellungen auch deswegen interessant, da sie das subjekttheoretische Komplement zur Vorstellungen bietet, dass kognitive Systeme üblicherweise Mischsysteme aus Wissen und Unwissen darstellen, wobei dieses Unwissen nicht nur aus nicht Bekanntem, sondern aus affektiv besetzten Glaubenssätzen besteht, die sich gegen Aufklärung sperren . Die Verbindung von beidem sorgt für die Verstärkung sowohl der individuellen Bewältigungsstrategien als auch der sozial vorherrschenden kognitive Muster.
Die psychoanalytische Theorie der Wahrnehmung macht noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt des Wahrnehmungsprozesses aufmerksam. Th. Reik hat die spezifische Form „gleichschwebender Aufmerksamkeit“, mit der der Analytiker den Äußerungen des Patienten auf sich wirken lässt, als „Hören mit dem dritten Ohr“ bezeichnet. Das bedeutet u. a. eine besonders intensive Konzentration auf unterschwellige bzw. indirekte Signale, deren Wirkung sich in der Gegenübertragung spiegelt. - Auch dies ist eine Fähigkeit, die in unspezifischer Form auch der Normal-Wahrnehmung eigen ist: Psychische Resonanz beschränkt sich nicht auf manifestes Geschehen, sondern schließt Reaktionen auf das gesamte Spektrum latenter und unter-schwelliger Elemente von Ereignissen ein. Auch ein nicht geäußerter Hilfeschrei bringt daher Interaktionspartner dazu, Hilfe anzubieten (oder sich aggressiv abzugrenzen). Aus psycho-analytischer Sicht ist diese subliminale Wahrnehmung von besonderer Bedeutung, weil sie ein zentrales Medium unbewusster psychodynamischer Kommunikation darstellt. Mit Hilfe dieses Konzepts ist es möglich, die auch in anderen Theorien diskutierten Formen der Beeinflussung und indirekter Kommunikation (etwa in Watzlawicks Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsaspekt der Kommunikation, wobei letzterer den ersteren qualifiziert) in Funktion und Steuerung besser zu analysieren, weil es ermöglicht, beispielsweise die unterschwellige Resonanzbereitschaft/fähigkeit aus den psychodynamischen Konstellationen zu erklären.
5.2.4. Intrapsychischer Prozess und Entwicklung eines Handlungsentwurf
Das Konzept der Übertragung bietet also ein Modell, mit dessen Hilfe Wahrnehmung als aktive Leistung des Subjekts erläutert wird, als Modus der Kontaktaufnahme auf der Basis intrapsychi-scher Resonanz, wobei diese Resonanz eine multiple Struktur besitzt und auf verschiedenen Niveaus operiert. Damit wird der Konstruktionsvorgang der Realität verständlicher, weil Modi und Motive angebbar werden. Gleichzeitig wird der „Vorgriff“ vom Ergebnis des psychischen Prozesses auf die Wahrnehmung, den Mead und Schütz thematisieren, differenzierter darstellbar.
Mit der Wahrnehmung eines Ereignisses gewinnt es den Status einer Handlungsaufforderung. Es besteht also nun der Zwang zur Reaktion, wobei diese Reaktion intrapsychische Repräsentanz und Kriterien impliziert. Auch dies wird in den meisten Ansätzen mehr oder weniger deutlich vorausgesetzt. Vor allem im interaktionistischen Paradigma wird eine Fülle von Kategorien verwendet, die neben der Differenz Innen/Außen auch die innere Aktivität voraussetzen: role making, role distance, Definition der Situation usw. Aber auch in dieser Hinsicht sind die meisten soziologischen Vorstellungen vage bzw. so abstrakt, dass sie alles und damit nichts er-klären. Der bloße Verweis auf eine spontane und eigenwillige psychische Aktivität mit dem Hinweis auf das Problem der „Identitätsbalance“ und der „Situationsbalance“ verschiebt die Frage nur. Vorstellungen über Anreize und/oder Sanktionen sind zwar nicht falsch, aber letztlich indifferent und undifferenziert, weil sie stets ex post festlegen, ob Anreize oder Sanktionen stark waren, um zu wirken. Außerdem externalisieren auch sie die Problematik wieder. Essers „Evaluations“-konzept in die richtige Richtung, bietet jedoch - außer dem reduktionistischen Hinweis auf das SEU-Modell - keinen Anhaltspunkt dafür, nach welchen Prinzipien evaluiert wird.
Mead und Schütz bieten mit den Vorstellungen einer „Manipulationsphase“ bzw. mit der Ergänzung der thematischen durch die Auslegungs- und Motivationsrelevanz weiterreichende Vor-stellungen. Bemerkenswert ist, dass beide den dialogischen Charakter des intrapsychischen Prozesses hervorheben. - Auch hier bietet die Psychoanalyse ein wesentlich komplexeres Modell an. Geht man vom Konzept einer multiplen und heterogenen Resonanz aus, so folgt daraus, dass Handlungsaufforderungen nicht einfach durch die Entscheidung für eine (bereitliegende) Handlung verarbeitet werden können, sondern einen intrapsychischen Prozess der Verarbeitung auslösen.
Man kann ihn mit Hilfe der psychoanalytischen Konzepte deutlicher werden lassen. Danach aktualisieren Ereignisse den Status Quo der Psychodynamik, indem sie Anschlusspunkte bieten bzw. darstellen. Sowohl die manifesten als auch die latenten Gehalte provozieren subjektive Konnotationen. Diese Übersetzung in intrapsychische Dynamik bedeutet eine Aktivierung von primär- und sekundärprozesshaftem, von bewusstem und unbewusstem Geschehen. Eine Möglichkeit der Darstellung bietet Freuds Strukturtheorie der Psyche. Danach löst ein Ereignis - das Klingeln des Weckers, der Anblick eines sündhaft teuren Objekts der Begierde - im Es, im Ich und im Über-Ich jeweils verschiedene, sich widersprechende Reaktionen auslöst. Für unterschiedliche Triebimpulse, die sich auf dasselbe Objekt richten, verwendet sie den Begriff der Ambivalenz. Vielleicht sollte man hier von prinzipieller „Multivalenz“ sprechen. - Auf alle Fälle müssen die sich widersprechenden Impulse synthetisiert werden, damit eine Handlung zustande kommen kann. Die Dynamik des Primärprozesses spiegelt sich im Bewusstsein in deren bewussten Äußerungen: Empfindungen, Gedanken, Beurteilungen, also formatiert durch den Sekundärprozess. Sie sind daher vermittelt und überformt von dessen Funktionslogik. Damit ergibt sich eine erweiterte Sicht auf das Thema „Bewusstsein“. Aus psychoanalytischer Perspektive ist Bewusstsein mehr als nur Kognition, es ist bewusstes Erleben und - begrenzt - Steuern von psychischen Qualitäten, die mit Themen konnotiert sind. Daher ist Bewusstsein ein „multipler Prozessor“, der zugleich der Ort der praktischen Realisierung unterschiedlicher Modi von Repräsentierung ist (so dass das Objektbild stets psychisch konnotiert wird, d. h. als ein Feld von Empfindungen, Assoziationen, Erinnerungen, also Objekt-Phantasien erscheint) und der Bearbeitung dieser Repräsentationen mit den gleichen Modi ist. -
An dem Verarbeitungsprozess sind daher mindestens drei Funktionsprinzipien beteiligt:
• der Primärprozess (die Dynamik von Triebimpulsen und Objekt/Selbst-Bildern);
• der Sekundärprozess (der die funktionellen Ich- und Über-Ich-Leistungen einschließt);
• das Bewusstsein, welches zu diesen Prozessen ein Doppelverhältnis von gleichzeitigem Erleben und reflexiver Distanzierung hat und zudem die Umweltkonditionen ins Spiel bringt und hält.
Es gestaltet sich also ein komplexer Prozess, der nicht nur in unterschiedlichen Instanzen (und auf verschiedenen Niveaus), sondern auch noch im Mit- und Gegeneinander verschiedener Funktionsprinzipien verläuft. Dieser multiple psychische Prozess der Verarbeitung von Hand-lungsaufforderungen sprengt in seiner Komplexität, seiner Vielfalt und seinem Tempo jede Darstellungsmöglichkeit. Allein schon die vielen (verschiedenen) Gedanken und Empfindungen, die das Bewusstsein zugleich verarbeitet, entziehen sich einer linearen Darstellung. Daher ist der intrapsychische Verhandlungsprozess auch nur schematisch andeutbar. Geht man etwa davon aus, dass das Klingeln des Weckers beim Es Unwillen auslöst, während das Über-Ich mit Pflichtgefühl aktualisiert (bzw. ein teures Konsumobjekt Aneignungswillen, aber auch moralische oder finanzielle Gegenargumente auslöst), so kann nicht beides zugleich realisiert werden. Es kommt also zu intrapsychischem „bargaining“, einem „Kampf“ zwischen den widersprüchlichen Impulsen, dessen Ausgang von der Machtverteilung (z. B. der Triebstärke), vom „Verhandlungsgeschick“ und der Koalitionsfähigkeit der Impulse, aber auch von weiteren Interventionen und Impulsen des Prozesses abhängt. Wenn sich also moralische Verbote und finanzielle Kalkulationen gegen den Erwerb des teuren Gegenstands verbünden, hat der Wunsch schlechte Chancen. Und Verhältnis von Es- und Über-Ich-Impulsen beim Wecken kann kippen, wenn das Bewusstsein beisteuert, dass die Zeit knapp wird und ein wichtiger Termin nicht versäumt werden darf (oder ein unwichtiger versäumt werden kann).
Die beziehungstheoretische Fassung des intrapsychischen Prozesses hebt stärker die inneren Objekt- und Selbstbilder hervor, die daran beteiligt sind - deren Niveau, die damit verbundenen Konnotationen, deren Dynamik. Auch hier gelten die skizzierten Prozesscharakteristika. Das beziehungstheoretische Konzept bildet jedoch stärker die Aggregationen und Konfigurationen ab, die sich aus persönlichen Kontakten ergeben. Insofern ist sie besonders geeignet, die Breite und die spezifische Qualität der intrapsychischen Reaktionen auf andere Subjekte, von denen eine Handlungsaufforderung ausgeht, darzustellen. Ein Rolleninhaber ist sowohl als Person als auch als Funktionsträger eine Herausforderung, bei der nicht nur Bedürfnisse, sondern auch Beziehungserfahrungen und -muster aktualisiert werden, wobei unvermeidlich auch die beziehungsspezifische Identität des Akteurs mitthematisiert wird. Insofern ist der beziehungstheoretische Zugang besonders geeignet, die Anschlüsse an gesellschaftliche Interaktionsformen und Beziehungsmodelle zu entwickeln. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein konkurrierendes, sondern ein perspektivisch anders zugeschnittenes Modell, welches ein anderes Aggregationsniveau des psychischen Geschehens in den Vordergrund stellt. Es ergeben sich also mehr oder weniger dynamische und/oder aporetische intrapsychische Konfliktkonfigurationen, wenn die Resonanz mehrdeutig ausfällt. Entsprechend erschwert ist dadurch das „intrapsychische bargaining“. - In eindeutigen Konstellationen - etwa, wenn die psychischen Ebenen konsonant reagieren, verläuft dieser Prozess naturgemäß „reibungslos“ und braucht weniger Zeit. Das bedeutet jedoch nicht: problemlos, denn die Übereinstimmung kann Ausdruck einer gut funktionierenden, aber (auch deshalb) heiklen Bewältigungsstrategie sein. Dieser Punkt wird im nächsten Abschnitt noch näher erläutert. -
Wie auch immer die intrapsychische Verarbeitung von Handlungsaufforderungen verläuft: sie mündet in ein Resultat, das man in Anlehnung an Lorenzer als „intrapsychische Einigung“ bezeichnen kann. Lorenzer (1972) benutzt diesen Ausdruck, um die praktische Integration von kindlichen Bedürfnissen und mütterlicher Aktivität im Sozialisationsprozess zu beschreiben; man kann in gut auch in diesem Zusammenhang verwenden, weil auch hier ein wie auch immer problematisches Resultat zustande kommt, welches sicher nicht nur von den Intentionen der Beteiligten gesteuert wird. - Eine solche intrapsychische Einigung wird nicht nur deshalb erforderlich, weil eine endlose Verhandlung zu viel psychische Ressourcen bindet und unlustvoll wird, sondern auch, weil die extern zur Verfügung stehende Zeit knapp ist. Nach einer (kultur- und themenspezifisch differierenden) Zeitspanne wird eine Handlung erwartet (und Nicht-Handeln als Reaktion zugerechnet).
Zustande kommt die Einigung also unter dem gemeinsamen Effekt von Prozessbelastung und externer Realität. Sie enthält dann das Ergebnis der intrapsychischen Verhandlung , in das sich u. U. alle beteiligten Impulse, Ebenen und Funktionsprinzipien einschreiben. Der einfachste Fall ist eine eindeutige Dominanz eines bestimmten Impulses bzw. die vektorielle Gleichrichtung aller Impulse oder die Unterordnung unter ein dominantes Prinzip. Das Ergebnis ist ein eindeutiger Handlungsentwurf. Eine solche Konfiguration ist jedoch eher ein Sonderfall. Wahrscheinlicher sind komplizierte Modi der Einigung und als Resultat widersprüchliche bzw. heterogene Handlungsentwürfe. Der Sekundärprozess impliziert nicht nur eine Domestizierung der triebhaften Impulse, sondern kann auch umgekehrt die Fortsetzung der Triebimpulse in getarnter Form bewirken. Rationalisierung heißt immer auch: das reale Bedürfnis wird vor der Selbstwahrnehmung verhüllt. Umso eher ist es möglich, dass solche Triebimpulse unter kognitiv falscher Flagge segeln und vom Bewusstsein akzeptiert und in den Handlungsentwurf aufgenommen werden, weil sie die bewusste Kritik auf diese Weise unterlaufen. „Wer sein Kind schlägt, der züchtigt es“ ist die ideale Legitimation, Aggressionen gegen Kinder (genauer: das was an ihnen als provozierend erlebt wird) ausleben zu können - sie erscheinen nicht als solche, sondern als Form der Verantwortung und Zuneigung und können so ungehindert ins Handeln durchdringen.
Kurz: der Handlungsentwurf muss nicht mit dem identisch sein, was die Einigung real enthält. Dazu kommt, dass die Einigung nicht in einen monologischen und eindeutigen Handlungsentwurf münden muss. Die Psychoanalyse betont die komplizierten Modalitäten der intrapsychischen Koalitions- und Kompromissbildung, zu denen auch - aber nicht nur - die bewussten Modulationen des Handelns gehören. Ein differenziertes Verständnis von Handlungsentwürfen muss in dieser Perspektive davon ausgehen, dass in ihnen verschiedene Impulse und Prozessanteile gleichzeitig zum Ausdruck kommen. Freud hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Überdetermination geprägt, der vor allem eine Absage an monokausales Denken darstellt. Überdetermination bedeutet, dass der Handlungsentwurf eine spezifische Konstellation von heterogenen Zielen verbindet. Die Bestrafung eines Kindes basiert möglicherweise auf einer Koalition von Es- und Über-Ich-Impulsen, die im Sekundärprozess zu einer legitimierenden, gefühlsmäßig sicheren Überzeugung verarbeitet und so dem Bewusstsein als objektive Notwendigkeit erscheint; der Kauf des teuren Konsumobjekts wird beschlossen, weil es dem Es gelingt, bestimmte Über-Ich-Tendenzen (so - oder besser - sein zu müssen als andere in der peer-group) für sich zu aktivieren. Selbst die sachlich richtige Kritik an einem Konkurrenten kann dadurch motiviert sein, dass sie Möglichkeit bietet, ihm eins auszuwischen.
Überdetermination sorgt also dafür, dass Handlungsentwürfe psychodynamisch in verschiedenen Sinnzusammenhängen gleichzeitig stehen (können). Insofern ist das, was schließlich im Bewusstsein als Handlungsentwurf kognitiv präsent ist, nicht unbedingt die psychodynamische Wahrheit und sicher nicht die ganze Wahrheit.
Da das Bewusstsein zugleich die Funktion der Aufrechterhaltung des Realitätsbezugs trägt, provoziert die Einigung auf einen bestimmten (widersprüchlichen) Handlungsentwurf zugleich eine soziale Kompatibilitätsprüfung und eine Strategie der praktischen Realisierung. Dies ist vorrangig eine intentionale Leistung: das Bewusstsein fragt (sich), ob der Handlungsentwurf sozial legitim und/oder angemessen ist und wie man ihn in die Tat umsetzt. Eine negative Antwort auf die erste Frage führt u. U. zur Revision oder Korrektur des Handlungsentwurfs - oder aber zu Überlegungen, wie Handlungsziele so ausgedrückt werden können, dass sie nicht auffallen oder anecken. Die zweite führt zur Auswahl von Formen praktischen Handelns.
In der Terminologie der Psychoanalyse: es kommt zu einem zweiten „Sekundärprozess“ - diesmal intentional, mit dem Ziel der Angleichung von Handlungsentwurf und Außenwelt. Dieses Thema ist in der Mikrosoziologie inzwischen ausführlich behandelt worden. Vor allem Goffman hat sich (in seinen frühen Arbeiten; vgl. 1969, 1972) ausführlich mit den Bedingungen und Formen der Inszenierung von Handlungen beschäftigt. Seine Studien zeigen deutlich, dass dieser Prozess ein (implizites und explizites) Objekt- und Selbstbild impliziert: Jede Inszenierung braucht Vor-Bilder, auf die sie zentriert ist. Die psychoanalytische Theorie kann hier einen differenzierten Zugang zum Problem der Genese, der Struktur und Funktion dieser Objekt- und Selbstbilder leisten, weil sie deren Verankerung in den psychischen Prozess und damit auch deren Dynamik erfassen kann. Dadurch erweitert sich der Blick auf latente Sinnzusammenhänge, in denen Erwartungen stehen, auf latente Funktionen, die Selbstbilder haben etc.
5.2.5. Die Aktion
Aus dem bisher Diskutierten geht hervor, dass es eine Eins-zu-eins-Umsetzung von intrapsychischem Geschehen in Handlung nicht gibt und nicht geben kann. Bereits in der Einigung ist nicht mehr alles, was sich psychisch abgespielt hat, präsent: im Ergebnis wird der Prozess gefiltert; bestimmte Anteile wurden unterdrückt, andere hervorgehoben. Aber selbst dieses Ergebnis ist nicht realisierbar, weil die darin präsenten Wünsche, Bedürfnisse, Ziele nicht vollständig realisierungsfähig sind. Der Primärprozess ist eine von der empirischen Realität getrennte Welt. Schon deshalb sind die dort vorherrschenden Impulse nicht empirisch realisierbar. Aber auch das, was qua Sekundärprozess daraus wird, enthält noch ein konnotatives Feld von un-realistischen (und daher unrealisierbaren) Assoziationen. Schließlich sorgt der Prozess der Anpassung an die Außenwelt dafür, dass wichtige Anteile des Handlungsentwurfs weggefiltert und/oder stilisiert werden.
Dazu kommen die unvermeidlichen Übersetzungseffekte. Der Übergang zur Handlung bedeutet, dass der Handlungsentwurf von den expressiven Medien exekutiert wird. Zur Verfügung stehen drei Medien:
- Motorik
- Gestik/Mimik
- Sprache.
Die Leistungen und Grenzen dieser Medien sind seit Mead oft und systematisch untersucht worden. Unabhängig von anderen Eigenheiten und Schwierigkeiten lässt sich feststellen, dass jedes Medium seine Möglichkeiten und Grenzen hat, d. h. keines ist imstande, das gesamte Spektrum zu nutzen. Handlungen sind daher ein mixtum compositum aus jeweils unterschiedlich selektiven und konstitutiven Aktivitäten. Der Übersetzungsprozess von Entwürfen in Handlungen ist damit eine erneute Transformation, die durch die Körpergebundenheit der expressiven Medien begrenzt und gesteuert (und dabei „fehleranfällig“) ist.
Das, was als Handlung der Außenwelt präsentiert wird, ist deshalb immer etwas anderes als das, was sich intrapsychisch abgespielt hat. Es ist weniger, weil in einem mehrstufigen Selektionsprozess bedeutende Elemente weggefiltert werden. Es kann jedoch aus Sicht der Psychoanalyse zugleich mehr sein als das, was Einigung und Handlungsentwurf enthalten. Dies folgt aus der Überlegung, dass der Einigungsprozess einerseits aporetisch sein kann (also bestimmte Impulse abspaltet), andererseits Impulse enthält, die nicht als solche deklariert sind, so ergeben sich daraus drei Möglichkeiten:
- Uminterpretierte psychische Impulse unterlaufen (bzw. unterminieren) den bewussten Handlungsentwurf, weil sie als etwas anderes erscheinen als sie sind. Sie können daher auch soziale Kontroll- und Stilisierungsprozesse unbeschadet überstehen und setzen sich ins Handeln durch, ohne dass diese Realisierung dem Akteur bewusst ist.
- Relevante Handlungsimpulse sind im Handlungsentwurf nicht präsent, weil der psychische Prozess an dieser Stelle „klischehaft“ rigide (Lorenzer) wird oder aber es zu Symptombildungen - als Kompromiss zwischen Abwehr und Abgewehrten - kommt.
- Die in der Einigung nicht präsenten psychischen Impulse sind deshalb noch nicht wirkungslos. Sie bleiben psychodynamisch virulent und behalten daher die Fähigkeit, sich entweder gegen gegen den bewussten Handlungsentwurf durchzusetzen oder aber, als unbewusster Impuls, am Prozess der Handlungskontrolle und -steuerung vorbei, in die Handlung durchsetzen.
Kurz: Aus der psychoanalytischen Perspektive wird deutlich, dass es sowohl zu Widersprüchen zwischen Handlungsintention und realer Handlung - etwa in Form von „Triebdurchbrüchen“ - als auch zu unbewussten Handlungen bzw. Handlungsanteilen kommen kann. Der dafür verwendete Begriff ist „Agieren“, d. h. das Ausleben von dem bewussten Ich unbekannten oder unbegreiflichen Impulsen (z. B. Freud GW X, 130ff). Es steht außer Frage, dass diese beiden Möglichkeiten für eine systematische Handlungstheorie von besonderer Bedeutung sind. Um nur eine der sich damit eröffnenden Perspektiven anzudeuten: Weiter oben wurde erwähnt, dass Wahrnehmung auch subliminar stattfindet: Subjekte begreifen ohne bewusstes Registrieren latente Sinnzusammenhänge. Man könnte, bildlich gesprochen, sagen, dass das Unbewusste unbewusst unbewusste Handlungsaufforderungen begreift und auf sie reagiert - mit unbewussten Äußerungen, die ihrerseits zu einer unbewussten Handlungsaufforderung werden und so die unbewusste Interaktion fortsetzen. Auf diese Weise wird also eine eigene Ebene der Interaktion konstituiert und erhalten, die unabhängig von deren sozialen und intentionalen Strukturen funktioniert - und sich massiv auf diese auswirken kann.. -
Handlungen können also prinzipiell überdeterminiert sein, d.h.: in actu realisieren sich zugleich verschiedene Handlungsimpulse und –aufforderungen. Damit sind Handlungen potenziell gekennzeichnet von Spaltungen in unterschiedliche Dimensionen des Ausdrucks. Entsprechend können Handlungen auch von unterschiedlichen Modalitäten gesteuert werden. Mindestens drei (sich ergänzende oder überlappende) Modi sind dabei handlungstheoretisch zu unterscheiden:
- Intentionales Handeln, das sich in Handlungsentwurf und -realisierung äußert („kon-gruentes“ Handeln);
- Intentionales Handeln, in dem das Resultat der intrapsychischen Einigung stilisiert und verdeckt ist (strategisches Handeln);
- Nichtintentionales Handeln, in dem sich der psychische Prozess gegen das Bewusstsein oder an ihm vorbei sich durchsetzt („Agieren“).
Empirische Handlungen sind (von Sonderfällen abgesehen) Mischungen aus diesen drei Modalitäten (wobei sich ein breites Spektrum von Mischungsverhältnissen ergibt). Handlungen stehen daher zugleich in verschiedenen Sinnzusammenhängen und folgen einer multiplen Logik, sind also heterogen (und u. U. widersprüchlich). Dabei ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit der Verwendung verschiedener Medien der Expression die Möglichkeit, dass die verschiedenen Handlungsimpulse in verschiedenen Medien ausgedrückt werden (also die ablehnende Gestik die zustimmende sprachliche Äußerung kommentiert). Eine zweite Möglichkeit ist die nicht intentionale Realisierung psychischer Impulse (etwa in Form der sogenannten „Fehlleistungen“). Von besonderer Bedeutung ist die Möglichkeit unterschwelliger/latenter Expression. Vor allem die sprachliche Kommunikation ist durch ihre Komplexität geeignet, verschiedene Sinnzusammenhänge zugleich zu realisieren d. h. die sprachliche Äußerung enthält (in codierter Form) einen latenten Sinn, der mitgeteilt wird, ohne intentional ausgesprochen zu werden.
Mit der Aktion ist der unmittelbare Handlungszyklus abgeschlossen. Durch die Reaktion auf die Handlungsaufforderung ist das Subjekt vom Reaktionsdruck befreit, ist das Handlungsgleich-gewicht wieder hergestellt. Gleichzeitig ist damit auch die soziale Situation weiterentwickelt. Damit wird auf doppelte Weise weiteres Handeln angebahnt:
- zum einen ist das (gesamte Spektrum von) Handeln von Ego wiederum für Alter eine Handlungsaufforderung und/oder eine Veränderung der Situation, die Restrukturierung provoziert;
- zum anderen ist das erfolgte Handeln für Ego selbst ein relevantes Ereignis, das eine Fortschreibung/Veränderung des intrapsychischen Prozesses impliziert: Bedürfniskonfi-gurationen, funktionelle Prozesse, Selbst- und Objektbilder werden aktualisiert und neu konfiguriert. Dies wiederum kann der Ausgangspunkt der nächsten, intrinsisch motivierten Handlung sein.
Die Psychoanalyse kann zu beiden Punkten relevante Konzepte anbieten. Die Verschränkung von Handlungen kann sie als unbewussten Interaktionsdynamik bzw. als unbewussten Gruppen-prozess behandeln und dadurch zugänglich werden lassen (vgl. dazu z. B. Bauriedl 1980, Lorenzer 1972, Argelander 1972, Bion 1969). Die Selbststimulierung des psychischen Prozesses kann mit einem Konzept psychodynamischer Vorgänge - also etwa dem (bewussten oder unbewussten) Kippen von Aggression in Schuldgefühle - reflektiert werden (wobei wiederum die Verschränkung mit sozialen Rahmenbedingungen die Chance bietet, externe Steuerungen mitzuthematisieren). -
5.2.6. Handlungstheoretische Perspektiven
Zu den Schwierigkeiten der Handlungstheorie gehört, dass sie einen Prozess behandeln muss, der mit verschiedenen Modalitäten arbeitet und auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig statt-findet, wobei die verschiedenen Sinnzusammenhänge nicht alle mit den gleichen Methoden erfaßt und begriffen werden können. Hier bietet die Psychoanalyse Theorien und methodische Anregungen (auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann), die den Horizont erweitern und Probleme behandeln, die die soziologischen Perspektiven nicht gut erfassen.
Die soziologische Handlungstheorie kann, so ist deutlich geworden, von der Psychoanalyse in doppelter Hinsicht profitieren:
- sie ist eine dynamische Motivationspsychologie, die für Themen und Art und Weise ihres Ausdrucks differenzierte Modelle bietet und
- sie enthält eine ganze Reihe von produktiven Vorstellungen über die Struktur und Logik - vor allem unbewusster - psychischer Prozesse.
Die Kooperation mit der Psychoanalyse hilft der Handlungstheorie also zunächst dadurch, dass sie die Leerstelle der Motive, etwa das theoretisch nicht weiter analysierbare „I“ des Symboli-schen Interaktionismus, füllen kann. Statt die Psyche als bloße Natural- oder Residual-Kategorie zu behandeln, bietet sich die Möglichkeit, sowohl ihre Formierung als auch ihre komplexen Äußerungsformen zu erfassen und soziologisch einzubinden.
Motivationstheoretische Erweiterungen des Handlungsbegriffs können eine ganze Reihe soziologischer Konzepte anregen. Mindestens ebenso bedeutsam sind jedoch die Beiträge zur Handlungslogik, die die Psychoanalyse leistet. Mit Begriffen wie Übertragung, Abwehr, Subjekt- und Objektbilder, Primär- und Sekundärprozess, Einigung, Überdetermination erlaubt sie ein wesentlich komplexeres Modell, das subjektives Prozessieren und dessen generelle Strukturen zugänglich werden lässt. Das ließe nicht nur Differenzierungen nach sozialen bedingten Subjektstrukturen zu, sondern eröffnete auch die Differenzierung etwa nach Funktionsniveaus. So wird mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse nicht nur beschreibbar, aus welchen psychodynamischen Gründen „Normalhandeln“ unter Stress gerät, es ist auch möglich die Veränderungen in der Funktionslogik - etwa die systematischen Effekte von Regression unter Druck - zu erklären.
Es ist deshalb auch problemlos vorstellbar, dass und wie mikrosoziologische Studien gewinnen, wenn sie entsprechende Anschlüsse nutzen. Nur einige Andeutungen:
- Mit Hilfe der Psychoanalyse lassen sich interaktionistische und phänomenologische Ansätze produktiv erweitern. So wäre beispielsweise das interaktionistische Konzept des „role taking“ besser zu fassen, wenn der Transformationsprozess von Realität deutlicher erkennbar und differenzierter analysierbar wird. Auch das „bargaining“ lässt sich differenzierter beschreiben, wenn man Motivlagen und Strategien psychodynamisch erweitert. Ebenso können soziale Inszenierungen (sensu Goffman), symmetrische wie komplementäre Interaktionsverläufe usw. präziser untersucht werden.
- Ebenso kann die konstruktivistische Vorstellung der kognitiven Erzeugung von Welt, die bisher letztlich dabei stehen bleibt, dass dies der Fall ist, aber wenig über den „Konstrukteur“, der da tätig ist, sagt und sagen kann, weiterentwickelt werden, wenn Vorstellungen über psychische Themen und psychisches Prozessieren angeschlossen werden.
- Auch eine rationalistische Perspektive ist problemlos kompatibel mit psychoanalytischen Befunden, da die Psychoanalyse keineswegs die Möglichkeit zweckrationaler Handlungen bestreitet. Sie kann darüber hinaus von ihren Befunden profitieren, wenn sie die prinzipiell richtige Annahme einer sinnvollen Handlungslogik nicht erst ex post differenziert, sondern von Anfang an mit der Vorstellung arbeitet, dass Sinn komplex ist.
- Wenn schon darauf beharrt wird, „psychische Systeme“ radikal von sozialen zu trennen (eine ex-cathedra-Vorstellung, an deren praktischen Sinn man zweifeln kann), wäre der Zugriff auf eine dynamische Subjekttheorie immerhin noch eine Möglichkeit, die theoretische Leerstelle des „psychischen Systems“ zu füllen.
Eine Subjekttheorie, die von multipler Logik und multiplem Prozessieren ausgeht, ist als Ausgangspunkt einer Handlungstheorie besser geeignet ist als eine, die Handeln begrifflich ohne Not von vornherein monologisch verkürzt. Eine mikrosoziologische Theorie des Handelns wäre daher gut beraten, sich auf psychoanalytische Methoden und Erkenntnisse einzulassen. Das würde umgekehrt voraussetzen, dass die Psychoanalyse sich ihrerseits auf mikrosoziologische Perspektiven einstellt, d. h. vor allem: sie müsste als Allgemeine Psychologie ausgebaut werden. Das würde vor allem bedeuten, dass sich der Blick psychoanalytischer Erkenntnis stärker auf das „Normalhandeln“ richten müsste. Dazu wäre eine stärkere externe „Nachfrage“ seitens soziologischer Handlungstheorien sicher hilfreich.
Wir danken für das Überlassen dieses Textauszuges.
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Red.: CD, 10.10.2014