Freud, Sigmund (1919f): Victor Tausk †.
Erstveröffentlichung: Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse. Bd. V, 1919, 225-227
GW XII, 316-318.
„Zu den glücklicherweise nicht zahlreichen Opfern, die der Krieg in den Reihen der Psychoanalytiker gefordert hat, muß man auch den ungewöhnlich begabten Wiener Nervenarzt rechnen, der — noch ehe der Frieden zum Abschluß gelangte — freiwillig aus dem Leben geschieden ist.
Dr. Tausk, der erst im zweiundvierzigsten Lebensjahre stand, gehörte seit mehr als einem Jahrzehnt dem engeren Kreise der Anhänger Freuds an. Ursprünglich Jurist, war Dr. Tausk bereits längere Zeit als Richter in Bosnien tätig, als er unter dem Eindruck schwerer persönlicher Erlebnisse seine Laufbahn aufgab und sich der Journalistik zuwandte, zu der ihn seine umfassende allgemeine Bildung besonders befähigte. Nachdem er längere Zeit in Berlin journalistisch tätig gewesen war, kam er in derselben Eigenschaft nach Wien, wo er die Psychoanalyse kennen lernte und bald beschloß, sich ihr ganz zuzuwenden. Bereits als gereifter Mann und Familienvater scheute er nicht vor den großen Schwierigkeiten und Opfern eines neuerlichen Berufswechsels zurück, der eine mehrjährige Unterbrechung in seinem Erwerbsleben bedeuten mußte. Sollte ihm das langwierige Studium der Medizin doch nur ein Mittel sein, um die Psychoanalyse praktisch ausüben zu können.
Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges hatte Tausk das zweite Doktorat erworben und etablierte sich als Nervenarzt in Wien, wo er nach verhältnismäßig kurzer Zeit im Begriffe war, sich eine ansehnliche Praxis zu schaffen, in der er schöne Erfolge erzielte. Aus dieser Tätigkeit, die dem ehrgeizigen jungen Arzt volle Befriedigung und Existenzmöglichkeit verhieß, wurde er durch den Krieg plötzlich gewaltsam gerissen. Sofort zur aktiven Dienstleistung einberufen hat Dr. Tausk, der bald zum Oberarzt avancierte, auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen im Norden und auf dem Balkan (zuletzt in Belgrad) seine ärztlichen Pflichten mit Aufopferung erfüllt und dafür auch offizielle Anerkennung geerntet. Es muß hier rühmend hervorgehoben werden, daß Dr. Tausk während des Krieges mit Einsetzung seiner ganzen Persönlichkeit und mit Zurücksetzung aller Rücksichten gegen die zahlreichen Mißbräuche offen aufgetreten ist, die leider so viele Ärzte stillschweigend geduldet oder sogar mitverschuldet haben.
Die mehrjährige aufreibende Felddienstleistung konnte an dem äußerst gewissenhaften Menschen nicht ohne schwere seelische Schädigung vorübergehen. Schon auf dem letzten psychoanalytischen Kongreß im September 1918 in Budapest, der die Analytiker nach langen Jahren der Trennung wieder zusammenführte, zeigte der seit Jahren körperlich Leidende Zeichen besonderer Gereiztheit.
Als Dr. Tausk dann bald darauf, im Spätherbst vorigen Jahres, aus dem Militärdienst schied und nach Wien zurückkehrte, stand der innerlich Erschöpfte vor der schwierigen Aufgabe, sich zum drittenmal — diesmal unter den ungünstigsten äußeren und inneren Verhältnissen — eine neue Existenz zu gründen. Dazu kam, daß Dr. Tausk, der zwei herangewachsene Söhne hinterläßt, denen er ein fürsorglicher Vater war, vor einer neuen Eheschließung stand. Den vielfachen Anforderungen, welche die harte Wirklichkeit an den Leidenden stellte, war er nun nicht mehr gewachsen. Am Morgen des 3. Juli machte er seinem Leben ein Ende.
Dr. Tausk, der seit dem Herbst 1909 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung war, ist den Lesern dieser Zeitschrift durch verschiedene Beiträge bekannt, die sich durch scharfe Beobachtung, treffendes Urteil und eine besondere Klarheit des Ausdrucks auszeichnen. In diesen Arbeiten kommt deutlich die philosophische Schulung, die der Autor glücklich mit den exakten Methoden der Naturwissenschaft zu verbinden wußte, zum Ausdruck. Sein Bedürfnis nach philosophischer Fundierung und erkenntnistheoretischer Klarheit zwang ihn, die so schwierigen Probleme in ihrer ganzen Tiefe und umfassenden Bedeutung zu erfassen, aber auch bewältigen zu wollen. In seinem ungestümen Forscherdrang ist er vielleicht manchmal in dieser Richtung zu weit gegangen; vielleicht war es auch noch nicht an der Zeit, der im Werden begriffenen Wissenschaft der Psychoanalyse eine allgemeinere Grundlage dieser Art zu geben. Die psychoanalytische Betrachtung philosophischer Probleme, für die Tausk eine besondere Begabung bewies, verspricht immer mehr fruchtbar zu werden; eine der letzten Arbeiten des Verstorbenen, über die Psychoanalyse der Urteilsfunktion die — bisher noch unveröffentlicht — auf dem letzten psychoanalytischen Kongreß in Budapest von ihm vorgetragen wurde, beweist diese Richtung seines Interesses.
Neben seiner philosophischen Begabung und Neigung zeigte Tausk auch ganz hervorragende medizinisch-psychologische Fähigkeiten und hatte auch auf diesem Gebiete schöne Leistungen aufzuweisen. Seine klinische Tätigkeit, der wir wertvolle Untersuchungen über verschiedene Psychosen (Melancholie, Schizophrenie) verdanken, berechtigte zu den schönsten Hoffnungen und gab ihm die Anwartschaft auf eine Dozentur, um die er in Bewerbung stand.
Ein ganz besonderes Verdienst um die Psychoanalyse hat sich Dr. Tausk, der über eine glänzende Rednergabe verfügte, durch die Abhaltung von Vortragskursen erworben, in denen er, mehrere Jahre hindurch, zahlreiche Zuhörer beiderlei Geschlechtes in die Grundlagen und Probleme der Psychoanalyse einführte. Seine Zuhörer wußten die pädagogische Geschicklichkeit und Klarheit seiner Vorträge ebenso zu bewundern wie die Tiefe, mit der er einzelne Themata behandelte.
Alle, die den Verstorbenen näher kannten, schätzten seinen lauteren Charakter, seine Ehrlichkeit gegen sich und andere und seine vornehme Natur, die ein Bestreben nach dem Vollendeten und Edlen auszeichnete. Sein leidenschaftliches Temperament äußerte sich in scharfer, manchmal überscharfer Kritik, die sich aber mit einer glänzenden Darstellungsgabe verband. Diese persönlichen Eigenartigkeiten hatten für viele eine große Anziehung, mögen aber auch manche abgestoßen haben. Keiner jedoch konnte sich dem Eindruck entziehen, daß er einen bedeutenden Menschen vor sich habe.
Was ihm die Psychoanalyse — bis zum letzten Augenblick — bedeutet hat, davon zeugen hinterlassene Briefe, in denen er sich rückhaltlos zu ihr bekennt und die Hoffnung auf ihre Anerkennung in nicht allzu ferner Zeit ausspricht. Der allzu früh unserer Wissenschaft und dem Wiener Kreise Entrissene hat gewiß dazu beigetragen, daß dieses Ziel erreicht werde. In der Geschichte der Psychoanalyse und ihrer ersten Kämpfe ist ihm ein ehrenvolles Andenken sicher.“