Aichhorn T. (Jahr). Wien 1938
„Finis Austriae“
Freud, Kürzeste Chronik
(Molnar 1992, S. 62).
Im Februar 1938 schrieb Anna Freud an Max Eitingon: „Ja und sonst? Die Politik nehmen wir vorläufig ruhig, obwohl um uns herum etwas Panik ist. Der palästinensische Artikel über uns ist zumindest sehr verfrüht. Ich wollte Sie würden ihn dementieren. Wir haben bisher hier niemals auch nur die leiseste Unannehmlichkeit gehabt. Das sind dann die wirklichen Greulmärchen!“[1] Und am selben Tag schrieb sie an Ernest Jones: „Ich schreibe mit der Hand, denn wir sind wieder einmal im Sanatorium. Man hat jetzt, gerade 4 Wochen nach der ersten Operation die notwendige Nachoperation gemacht. Zuerst waren sehr viel Schmerzen, aber dann hat er [Freud] sich sehr schnell erholt und wir werden vielleicht schon heute in die Berggasse zurückgehen können. Vielleicht werden jetzt wieder einige bessere Wochen kommen. Inzwischen waren die politischen Ereignisse, von denen Du weißt. In Wien war Panikstimmung, die sich jetzt wieder etwas beruhigt. Wir machen die Panik nicht mit. Es ist zu früh, man kann die Folgen des Geschehenen noch nicht voll beurteilen. Vorläufig ist alles wie es war. Es ist vielleicht auch für uns leichter als für andere, die beweglicher sind, wir brauchen nicht viel Entschlüsse zu überdenken, denn es kommen für uns kaum welche in Betracht.“[2]
Bei den „politischen Ereignissen“, die Anna Freud in ihren Briefen erwähnte, handelte es sich um das so genannte „Berchtesgadener Abkommen“: Am 12. Februar 1938 hatte eine Besprechung Hitlers mit Kurt Schuschnigg, dem Österreichischen Bundeskanzler, auf dem Obersalzberg stattgefunden. Von Hitler unter Druck gesetzt, unterzeichnete Schuschnigg ein Abkommen, in dem er zusagte, den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Innen- und Sicherheitsminister zu ernennen und eine Amnestie für politische Straftäter – u. a. für zirka 3.000 Nationalsozialisten – zu gewähren. Am 9. März kündigte Schuschnigg, der nach dem Berchtesgadener Abkommen nach einem Ausweg aus der bedrohlichen Lage gesucht hatte, eine für den 13. März angesetzte Volksbefragung an, die über die weitere Unabhängigkeit Österreichs entscheiden sollte. Hitler drohte daraufhin mit dem sofortigen Einmarsch Deutscher Truppen und forderte ultimativ die Absetzung der Volksbefragung. Den Forderungen Hitlers nachgebend, war Schuschnigg am Abend des 11. März zurückgetreten. Die Deutschen Wehrmacht marschierte in Österreich ein und am Brenner trafen sich deutsche und italienische Truppeneinheiten zu freundschaftlichen Zeremonien. Am 12. März, um 5 Uhr früh, landete der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, am Wiener Flughafen und 16 Uhr desselben Tages überschritt Hitler bei Braunau am Inn die österreichische Grenze.
Die Nazis führten Hausdurchsuchungen durch, sie zwangen Juden, die Ankündigungen für die Volksbefragung von den Gehsteigen zu waschen und sie beschlagnahmten jüdisches Eigentum. In der Nacht vom 11. zum 12. März inhaftierten die neuen Machthaber, unter der Mithilfe ihrer österreichischer Anhänger und auch der Polizei, die nun Himmler unterstellt war, rund 72.000 Menschen. Darunter waren viele Repräsentanten des bisherigen Regimes aber auch Künstler und Intellektuelle und Juden.
Mit dem am 13. März 1938 verlautbarten „Verfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ war der „Anschluss“ de facto vollzogen. Die Volksabstimmung am 10. April 1938 – ihr angesichts des enormen Propagandaaufwands vorprogrammiertes Ergebnis von über 90 Prozent war wenig überraschend – sollte nur noch einer nachträglichen Legitimierung dienen. In kürzester Zeit wurden Maßnahmen zur Institutionalisierung des Antisemitismus gesetzt und in Österreich die in Deutschland erprobten antisemitischen Gesetze eingeführt.
Ab Mitte Mai 1938 verstärkten die Nazis den Druck, um die Vertreibung von Juden aus Wien zu erzwingen. Die Einrichtung verschiedener Stellen, insbesondere die der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“, sollte ihre Auswanderung beschleunigen (Botz 1990).[3]
Die offizielle Politik der Nazis der jüdischen Bevölkerung gegenüber war zu dieser Zeit (noch) nicht durch physische Vernichtung sondern durch Vertreibung und Raub gekennzeichnet. So ist die Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich zu verstehen, durch die die Anordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 1938 bekanntgemacht wurde: „Jeder Jude im Sinne der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz (vgl. RGBI I 1935, S. 1333f) – und auch der nichtjüdische Ehegatte eines Juden – hat sein gesamtes in- und ausländisches Vermögen anzumelden und zu bewerten; ausgenommen sind Gegenstände zum persönlichen Gebrauch des Anmeldepflichtigen und Hausrat, der kein Luxusgegenstand ist. Juden ausländischer Staatsangehörigkeit haben nur ihr inländisches Vermögen anzumelden. Die Bewertung erfolgt nach dem gemeinen Wert. Die Anmeldepflicht entfällt, wenn der Gesamtwert des anzumeldenden Vermögens ohne Rücksicht auf die Verbindlichkeiten RM 5.000 nicht übersteigt. Der Beauftragte für den Vierjahresplan kann Maßnahmen treffen, um den Einsatz des anmeldepflichtigen Vermögens im Interesse der deutschen Wirtschaft sicherzustellen. Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis und Geldstrafe, in schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft“[4]
Der nach Wien entsandte Adolf Eichmann und sein Stellvertreter Alois Brunner legten Ausreisequoten für Juden fest, für deren Erfüllung die an Stelle der Israelitischen Kultusgemeinde im Mai 1938 eröffnete „Jüdische Gemeinde Wien“ verantwortlich war. Die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“ war jene SS-Dienststelle, die Fragen der Staatsbürgerschaft, des Ausländerrechts, der Devisen und der Vermögensbesteuerung koordinierte. Sie erteilte die „Unbedenklichkeitsbescheinigungen“, wenn keine Rückstände aus Mieten, Gebühren, Steuern oder Judenvermögensabgabe zu verzeichnen waren und die Reichsfluchtsteuer bezahlt worden war, und war – von 1938 bis 1941 – als einzige Behörde ermächtigt, Ausreisegenehmigungen für Juden aus Österreich zu erteilen (Rabinovic 2000): „Durch ihre [der Zentralstelle] Tätigkeit wurde die erzwungene Auswanderung von Juden, die ihren Höhepunkt mit fast 10.000 Auswandernden schon im Monat nach der Gründung der Zentralstelle [20. 8. 1938] bis September 1938 erreichte, wesentlich beschleunigt. Vom ‚Anschluß’ bis Ende Juli 1938 hatten nur 18.000 Juden Wien als Auswanderer verlassen. In den drei Monaten bis Oktober 1938 wanderten allein 32.000 Juden aus, und bis Juli nächsten Jahres folgten ihnen weitere 54.000. Am 30. November 1939 hielt man schließlich beim Stand von 126.445, der auch später nicht mehr wesentlich überschritten wurde. Bei der Konferenz von Evian im Sommer 1938 sollten zur Lösung der Flüchtlingsnot der Juden nach der Annexion Österreichs Auswege gesucht werden. Die Bemühungen blieben erfolglos, mehrere Staaten erschwerten darauf noch zusätzlich die Einwanderungsbedingungen für jüdische Auswanderer“ (Botz 1980, S. 254).
Quellen:
ABPS = Archiv der British Psychoanalytical Society, London.
AFP/LoC = Anna Freud Papers im Archiv der Library of Congress, Washington..
Literatur:
Botz, G. (1980): Wien vom „Anschluß“ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39. Wien-München: Verlag für Jugend und Volk.
Molnar, M., Hg. (1992): Sigmund Freud Tagebuch 1929 – 1939. Kürzeste Chronik. Frankfurt am Main: Stroemfeld 1996.
Rabinovici, D. (2000): Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Historische Studie. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag bei Suhrkamp.
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[1] A. Freud an M. Eitingon, Brief vom 20.2.1938, Original: AFP/LoC.
[2] A. Freud an E. Jones, Brief vom 20.2.1938, Original: ABPS.
[3] Der überwiegende Teil der Wiener Analytiker dürfte aus Wien bereits zwischen Mitte Mai und Mitte Juli geflohen sein (vgl. Reichmayr 1990, S. 132ff).
[4] http://www.ns-Quellen.at/gesetz_anzeigen_detail.php?gesetz_id=29310&action=B_Read) (Zugriff: 13.7.2021).