Aichhorn T. (Jahr). The Psychoanalytic Study of the Child
Thompson & Keable schreiben: „Im Jahr 1945 trafen in der Geschichte der englischsprachigen Psychoanalyse drei Ereignisse zusammen: die Schließung von Anna Freuds Kriegskinderheimen, den Hampstead War Nurseries, das Ende der Controversial Discussions in der British Psychoanalytical Society zwischen den Anhängern von Melanie Klein und Anna Freud sowie das erstmalige Erscheinen des von Anna Freud, Heinz Hartmann und Ernst Kris herausgegebenen Jahrbuchs The Psychoanalytic Study of the Child (PSOC). Die Arbeiten, die in den frühen Bänden des PSOC veröffentlicht wurden, stellen zum Teil eine Reaktion auf die beiden ersten Vorgänge dar. Ansonsten bieten sie einen fortlaufenden Beitrag zur theoretischen und klinischen Entwicklung der Nachkriegspsychoanalyse, deren Wurzeln in die 1920er und 1930er Jahre zurückreicht“ (Thompson & Keable 2018, S. 157).
Die Gründung von The Psychoanalytic Study of the Child war wesentlich von den Erfahrungen geprägt, die die aus Wien stammenden Begründer der Zeitschrift in den Jahren zuvor gemacht hatten. Ihr Leben war bekanntlich von Vertreibung, Flucht, Exil und Krieg geprägt gewesen. In einem von Thompson & Keable veröffentlichten Werbetext für die neue Zeitschrift heißt es, dass die Zukunft der Gesellschaft von der Fähigkeit der Kinder abhänge, den ständig wachsenden Spannungen in der Welt von heute und morgen standzuhalten (a. a. O., S.158). Die Verfasser mögen an einen Zustand der Welt gedacht haben, in dem es den Subjekten möglich ist, solchen Herausforderungen zu begegnen, oder, besser noch, einen Zustand der Welt, in dem man vor der Wiederholung solcher Erfahrungen bewahrt bleibt. Nicht zuletzt mit ihrer Zeitschrift wollten sie daran arbeiten, die Psychoanalyse für solche Ziele brauchbar zu machen.
Die Absichten der Herausgeber von The Psychoanalytic Study of the Child entsprachen durchaus denen der Wiener Psychoanalytischen Pädagogik, deren weitere Verbreitung und Entwicklung durch die politischen Ereignisse des Jahres 1938 gewaltsam beendet wurde. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass The Psychoanalytic Study of the Child eine lineare Fortsetzung oder Weiterentwicklung des bereits in den 1920er und 1930er Jahren in Wien Begonnen und Erarbeiteten darstellt. Es zu vermuten, dass die Erfahrungen, die die aus Wien geflohenen Analytiker gemacht hatten, Brüche und entscheidende Veränderungen oder zumindest andere Gewichtungen als die in Wien einstmals vertretenen Standpunkte bedingt haben. Verstand sich nämlich die Wiener Psychoanalytische Pädagogik als eine auf der Theorie der Psychoanalyse beruhende eigenständige Praxis jenseits der von Freud entwickelten, dann wurden nun pädagogische Zielsetzungen in die Theorie und auch in die Praxis der Psychoanalyse selbst aufgenommen. Es mag sein, dass das einer der Gründe ist, warum die Pädagogik aus The Psychoanalytic Study of the Child schließlich mehr oder weniger verschwunden ist.
Die Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik war 1926 von Heinrich Meng und Ernst Schneider gegründet worden. Sie umfasst elf Jahrgänge, der letzte Band erschien 1937. Ab dem V. Jahrgang 1931 gehörten auch Paul Federn, Anna Freud und A. J. Storfer zum Kreis der Herausgeber. Im Laufe des Jahres 1932 trat Storfer aus der Redaktion aus und August Aichhorn und Hans Zulliger traten dem Redaktionsteam bei. Ab 1934 übernahm – bei sonst unverändertem Redaktionsteam – Willi Hoffer die Schriftleitung (Weber 1999, S. 285ff). In der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse wurde sie folgendermaßen vorgestellt: „Die Zeitschrift wird der Pädagogik dienen, der theoretischen wie der praktischen, und zwar so wie die Psychoanalyse dies vermag“ (IZ, Bd. XIII, S. 249f).[1]
Es wäre ein ein grobes Missverständnis, würde man annehmen, dass Erziehung, wie sie von der Wiener Psychoanalytischen Pädagogik verstanden worden war, eine fraglose Anpassung und Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen zum Ziel hatte. Es ging ihr vielmehr darum, innere Prozesse zu beschreiben und zu ermöglichen, als deren Ergebnis das Subjekt fähig werden sollte, ein eigenständiges Leben zu leben, ohne dem Trieb oder der Gesellschaft ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Es könnte sein, dass es auf Grund der Erfahrung von Entwurzelung, Krieg, Exil und Verlust zu einer Vermischung von Psychoanalyse und Pädagogik, bzw. Erziehung gekommen war. Im Rahmen der analytischen Praxis stand im Zentrum der Bemühungen weniger das Subjekt und die mehr oder weniger vorurteilslose Erforschung und Bewusstmachung der in ihm wirksamen, ihm selbst nicht bewussten Triebregungen sondern eher die „Zähmung“ oder „Anpassung“ seiner innerpsychischen, als aggressiv und destruktiv angesehenen Triebkräfte an die Ziele einer nicht näher definierte „Gesellschaft“. Die Tendenz, die Aggressivität, das „Böse“ oder die destruktiven Tendenzen im Individuum zu bekämpfen, konnte man auch schon früher finden, nun ging es aber nicht mehr darum, den Kampf mit den Mitteln einer von der Psychoanalyse aufgeklärten Pädagogik sondern mit den Mitteln der Psychoanalyse als Praxis selbst zu führen. Es ist, als würden die Individuen weniger als gefährdet sondern eher als potentiell gefährlich betrachtet werden. Dabei wird zudem die Ebene der politisch bedingten Realität ausgeklammert. Dass das „Gefährliche“ oder „Böse“ in der Realität wirksam wird, beruht ja nicht allein auf den intrapsychischen Vorgängen in den Subjekten, sondern es nimmt von ihnen Besitz, wenn es durch die „Gesellschaft“, durch die politischen Gegebenheiten provoziert wird.
Einem Brief Anna Freuds an Ernst Kris kann man die Vorgeschichte der Gründung der neuen Zeitschrift entnehmen. Sie schrieb ihm über ihre Enttäuschung über den Ausgang der Controversial Discussions. Es war nicht gelungen, die Kleinianer aus der Londoner Vereinigung zu verdrängen. Sie selbst war aus dem Lehrausschuss ausgetreten, dem einzigen offiziellen Amt, das sie in der Vereinigung innegehabt hatte. Es habe sie aber sehr interessiert, was ihr Kris über seine und Hartmanns Idee zu einer „systematic psycho-analytic Psychology“ geschrieben habe und auch ihre gemeinsame alte Idee, ein „Handbook of Psycho-Analysis” zu begründen, sei ihr immer wieder eingefallen. So etwas könnte doch zu einem Unternehmen werden, schrieb sie, das eine gemeinsame Arbeit in irgendeiner lokalen Psychoanalytischen Vereinigung ersetzen könnte. Könnte diese Idee nicht realisierbar sein, obwohl sie durch den Atlantik voneinander getrennt lebten? Daraus, so meinte sie, könnte – mit einigen Freunden die er, Kris, finden würde, mit ihrer kleinen Gruppe in London und mit Marie Bonaparte eine neue internationale Zusammenarbeit entstehen, die die alte Internationale Vereinigung, die ohnedies tot sei, ersetzen oder neubeleben könnte. Loewenstein hätte so eine ähnliche Idee schon vor Jahren geäußert, Jones und der Kriegsausbruch hätten das damals aber verhindert. Die gemeinsame Sprache müsste wohl Englisch sein – oder Englisch, Französisch und Deutsch, aber die meisten hätten unterdessen gelernt, sich auf Englisch auszudrücken.[2]
Auf Anna Freuds Vorschlag, ein Handbuch herauszugeben, reagierte Kris mit dem Protokoll einer Besprechung zwischen Heinz Hartmann, Rudolf Löwenstein und ihm selbst: „This is to report on the discussion between Heinz Hartmann, Rudi Loewenstein and myself on the parts of your letter which have a bearing on the Handbook-question: We all felt happy that you envisaged some sort of handbook as essential at the present time. […] ‘Freudian Psychoanalysis’ seems no longer a sufficient definition. In order to make sure that what Freud meant was explained and that no bowdlerized or otherwise edited Freud should be expounded, but also that what is obviously implied in Freud’s thought should be made explicit, we agreed first to write the introductory parts ourselves. In saying that we wanted also to establish what we mean by a handbook, we had a systematic presentation in mind. The psychoanalytic psychology will start out with the Ego, the Id and the Superego and their functions, not with the history of these concepts. Other collaborators, we thought, would then have something to go on and can make up their minds whether or not they agree with our views. These views will therefore have a limited amount of binding power.”[3]
Als Anna Freud geschrieben hatte, dass sie mit diesen Vorschlägen einverstanden sein, schrieb ihr Kris, dass er ihr für ihr Vertrauen sehr danke. Nun werde er überlegen, wer die Herausgeber sein sollten und dann könne mit der Arbeit auch schon begonnen werden. Er werde sie über jeden seiner Schritte informieren und keine Entscheidung treffen, ohne ihre Zustimmung bekommen zu haben. In das Handbuch sollten zunächst vor allem Arbeiten aufgenommen werden, die bereits in der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik erschienen waren. Wer die neuen Mitarbeiter sein würden, das wisse er zurzeit noch nicht.[4]
Im Protokoll des ersten „Meetings of the Editorial Board of The Psychoanalytic Study of the Child”,[5] das am 11. Juli 1944 stattgefunden hatte, wurde vermerkt, das im ersten Band, Aichhorns Arbeit „Zur Technik der Erziehungsberatung“ (Aichhorn 1936) zusammen mit einer Arbeit, die erklären sollte, warum Aichhorn so erfolgreich war, veröffentlicht werden
Sollte. Dazu ist es nicht gekommen.[6]
Der erste Band von The Psychoanalytic Study of the Child erschien 1945. Die “Managing Editors“ waren Anna Freud, Heinz Hartmann und Ernst Kris, dem Editorial Board gehörten in den USA Otto Fenichel, Phyllis Greenacre, Heinz Hartmann, Edith B. Jackson, Ernst Kris, Lawrence S. Kubie, Bertram Lewin und Marian C. Putnam an, in Great Britain: Anna Freud, Willi Hoffer und Edward Glover.
Als Anna Freud den ersten Band von The Psychoanalytic Study of the Child erhalten hatte, schrieb sie an Kris: „Ich finde den Band als Gesamtheit ausgezeichnet und sicherlich die erste representative Darstellung der Ansichten zur Kinderanalyse aus unserem Kreis. Mit ganz besonderem Vergnügen habe ich Hartmann’s und Ihre Arbeit gelesen, das heisst mit einer Art aufatmen, dass es die wirkliche Psychoanalyse doch noch irgendwo gibt.[7] Die Arbeit von Spitz finde ich ganz besonders schlecht, eine große Inexaktheit im Denken und in den Tatsachen überbrückt durch eine scheinbare statistische Genauigkeit. Ich hatte gehofft, dass Spitz sich gebessert hat. Das ist aber scheinbar nicht der Fall. Berta Bornstein finde ich sehr gut und korrekt, vielleicht etwas zu sehr auf dem Stand von 1938. Aber sie kann in Wirklichkeit immer sehr viel mehr, als sie beschreibt. Die Krankengeschichte von Emmy Sylvester ist sehr interessant und sehr gut.“[8]
Nellie Thompson schreibt: „Beyond the rigorous standards Kris sought in the annual's pages, its creation met a crucial need for many analysts in the aftermath of the dissolution of the European psychoanalytic community, the geographic dispersal of its members, the Controversial Discussions in the British Psychoanalytical Society, and Anna Freud's decision to establish the Hampstead Clinic outside its confines. For emigré analysts in the United States and London, and like-minded American and British colleagues, the annual was a venue where they could continue to consider and develop Freud's last revisionary psychoanalytic contributions in clinical and theoretical papers devoted to child analysis and developmental research studies of infants and young children. Its creation was also, I believe, an act of restitution, an effort to recreate a sense of continuity with an irretrievably lost psychoanalytic community for its editors, contributors, and readers. It was a “transitional space” (Winnicott 1953) where the expansion and transformation of the theoretical and clinical legacy of pre-war psychoanalysis was undertaken and sustained by a sense of connection with this lost community. The power of this nostalgic longing was expressed at several meetings in the 1950s in which analysts identified with the annual's work came together and voiced pleasure that, even if for only a few hours, the spirit and atmosphere of the past would be once again enjoyed (Thompson 2012 S. 29f).
Quellen:
AFP/LoC = Anna Freud Papers im Archiv der Library of Congress, Washington.
EKP/LoC = Ernst Kris Papers im Archiv der Library of Congress, Washington.
IZ = Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse.
Literatur:
Aichhorn, A. (1936): Zur Technik der Erziehungsberatung. Die Übertragung. In: Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik, Jahrgang X., S. 5-74. Psychoanalyse und Erziehungsberatung. 2. Kapitel. Biermann, G. (Hg.), München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag 1970; Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1974.
Thompson, N.L. (2012). The Transformation of Psychoanalysis in America: Emigré Analysts and the New York Psychoanalytic Society and Institute, 1935-1961. J. Amer. Psychoanal. Assn., 60, S. 9-44
Thompson, N. I. & Keable, H. (2018): The psychoanalytic Study of the Child: Ein Beitrag zur Geschichte der Psychoanalyse in der Nachkriegszeit. Luzifer-Amor, 31 (61), S. 157-177.
Winnicott, D.W. (1953). Transitional objects and transitional phenomena: A study of the first not-me possession. International Journal of Psychoanalysis 34, S. 89-97.
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[1] In der Fortsetzung heißt es: „Sie wird in erster Linie Arbeiten bringen, die aus der Praxis hervorgegangen, d. h. an Erfahrung und Beobachtung orientiert sind. Dabei denken wir zuerst an Ergebnisse der Anwendung des psychoanalytischen Verfahrens an Kindern und Jugendlichen oder an Erwachsenen, deren Kindheit zum Gegenstand analytischer Erforschung gemacht wurde. Dann kommt jene Erfahrung in Frage, die dem psychoanalytisch eingestellten Erzieher bei seinen verschiedenen Erziehungsleistungen in Schule und Haus, in der Anstalts-, Heil- und Fürsorgeerziehung, in der Lehrerbildung, in der Erziehungs- und Berufsberatung, bei charakterologischen Untersuchungen (Psychodiagnostik) usw. erblüht. Im Weiteren wenden wir unsere Aufmerksamkeit der Förderung jener Gebiete zu, die für den Erzieher bedeutsam sind, wie Kinderpsychologie, Charakterologie (Individualpsychologie von Erzieher und Zögling), Pathopsychologie, Methodik der Erziehung, Gruppen- und Massenpsychologie. Sorgfältige Literaturberichte sollen den Leser darüber orientieren, was auf den angeführten Gebieten bis jetzt schon geleistet worden ist und was weiterhin geleistet wird, ferner über die allgemeinen Fortschritte der Psychoanalyse überhaupt. […] Es läßt sich heute feststellen, daß die Kritik der Psychoanalyse gegenüber, soweit sie nicht einfach affektive Ablehnung ist, hauptsächlich von […] persönlichen Einstellungen aus geführt wird. Solange die Kritik nicht in erster Linie Nachprüfung der auf psychoanalytischem Wege erforschten Erkenntnisse ist, wird jede Polemik unfruchtbar sein und von uns gemieden werden“ (IZ, Bd. XIII, S. 249f).
[2] A. Freud an E. Kris, Brief vom 13. 2. 1944; Original: EKP/LoC.
[3] E. Kris an A. Freud, Brief vom 8. 3. 1944; Original: AFP/LoC.
[4] „I wish to thank you very much for your confidence and shall now be able to settle the board question and to get on with the work. I shall keep you informed about every step and no final decision will be made without your approval. […] My first choice would be: Steff Bornstein, Misconceptions of psa. education; A. Aichhorn, parts of the child guidance article; E. Sterba: Eating disturbances (I don’t know about potential new contributions)” (E. Kris an A. Freud, Brief vom 11. 6. 1944; Original: AFP/LoC).
[5] Dem ersten Redaktionskomitee gehörten Phyllis Greenacre, Edith Jackson, Ernst Kris, Lawrence Kubie, Marian Putnam und René Spitz an.
[6] Meeting of the Editorial Board “The Psychoanalytic Study of the Child”; Minutes, July 11, 1944; Tiposkript: AFP/LoC.
[7] Kris schrieb Anna Freud dazu: „Mir ist […] ein Gedanken gekommen, den wir in letzter Stunde wieder aus dem Manuskript unseres Aufsatzes für das ‚Annual’ entfernt haben, weil er nicht recht hineinpasste. Aber ich erzähle Ihnen kurz davon, weil es Sie vielleicht anregen könnte: Die Annahme ist, dass zwischen dem menschlichen Trieb und dem tierischen Instinkt ein wesentlicher Unterschied besteht. Der tierische Instinkt garantiert survival, dient der Selbsterhaltung, (allgemein, außer vielleicht beim Haustier). Der menschliche Trieb kann das Leben gefährden; die Selbsterhaltung ist eine Funktion des Ich, dem ja die Realitätsprüfung zufällt. Eine seltene Ausnahme betrifft kindliche Essgewohnheiten. Die Experimente in Yale, die Sie auch in der Wiener nursery wiederholt haben, legen den Gedanken nahe, dass Kinder ihre Diät voller Instinktsicherheit auswählen – es sei denn das Versagung und Befriedigung von Esslust eben Teil des libidinösen, triebhaften Geschehens geworden sind“ (E. Kris an A. Freud, Brief vom 5. 7. 1946; Original: AFP/LoC).
[8] A. Freud an E. Kris, Brief vom 14. 3. 1946, Kopie: AFP/LoC.