28. 12. 1951: Brief von Robert H. Jokl (Topeka) an Lambert Bolterauer (Wien)

28. 12. 1951: Brief von Robert H. Jokl (Topeka) an Lambert Bolterauer (Wien)

Mrs. and Doz. Dr. Lambert Bolterauer [1]
Josefsgasse 7
Wien, VIII., Austria

Liebe Freunde:

Sie zwingen mich, mit Ihren eigenen Worten zu beginnen: „Fast ein halbes Jahr ist vergangen, seit ich Ihren letzten Brief erhielt“. Mit der Absicht, „Gleiches mit Gleichem zu vergelten“, hat das aber bestimmt nichts zu tun. Ich bedauere vielmehr ehrlich, dass die sich überstürzenden Ereignisse dieses halben Jahres mir so gar keine Zeit ließen, lieber Freunde zu gedenken., die wahrlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Aber ich zweifle nicht daran, dass Sie verstehen, die zwingenden Gründe zu würdigen, wenn Sie sie gehört haben werden.

Vorher möchte ich aber auf den Inhalt Ihres letzten Schreibens eingehen, der seine Aktualität kaum verloren haben wird.

Ich danke Ihnen zunächst für die eingesendeten Tätigkeitsberichte der August Aichhorn Gesellschaft und der Beratungsstelle für Mittelschüler und gratuliere Ihnen zu dem wirklich sehr bemerkenswerten Erfolg, der, wie ich wohl weiß, der Hauptsache nach Ihnen selbst zu verdanken ist. Frau Dr. Fried [2],  die, wie Sie wissen, hier war und bei uns allen einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen hat, hat uns und speziell auch mir mehr darüber erzählt, so dass ich einigermaßen bescheid weiß. Besonders angenehm hat mich berührt, dass Ihre Bestrebungen und die Analyse in general einen Sachwalter in Prof. Hoff gefunden hat, der diese neue Einstellung wohl von hier mitgebracht hat.

Was Ihren Wunsch nach Unterstützung der Gesellschaft [3] von hier aus betrifft, so habe ich Ihnen schon seinerzeit die Schwierigkeiten auseinandergesetzt, denen ich hier begegnet bin. Ich will meine Bemühungen in der Sache nicht aufgeben, nur muss ich Sie bitten, noch einmal ein Ansuchen einzubringen und die Tätigkeitsberichte, wo möglich auch einige markante Stellen aus den Zeitungsausschnitten, in perfekter englischer Übersetzung beizulegen. Das Gesuch richten Sie bitte: To „The Menninger Foundation“ and „The Topeka Institute for Psychoanalysis“ und adressieren es an die erstere (dieselbe Adresse). Erwähnen Sie irgendwie die Unterstützung, die Sie aus London erhalten haben. Mir fehlt es an Zeit, die Übersetzung selbst zu machen, sonst täte ich es gerne. Zögern Sie nicht zu lange, denn ich bleibe nur bis zum kommenden Sommer hier. Ich hoffe, dass es mir noch vor Szenenwechsel gelingen wird, die Widerstände zu brechen, jedenfalls können Sie versichert sein, dass meinerseits alles erdenkliche dazu geschehen wird. Als persönliches Mitglied können Sie mich buchen. Ich lasse Ihnen im Jänner Dollar 10.- via Creditanstalt-Bankverein zukommen, mehr kann ich augenblicklich aus, triftigen Gründen, die ich Ihnen später auseinandersetze, nicht leisten.

Dass Sie Dr. Hacker [4] in den Vorstand nahmen, war leider ein Fehlgriff. Er wird erstens nichts leisten, weil er mit sich selbst viel zu sehr befasst ist und ihn anderes nicht interessiert, zweitens ist er bei uns nicht zum besten angeschrieben, was nicht nur auf seinen Charakter Bezug hat, sondern auch darauf, dass er in Los Angeles Mitglied der Neofreudian Group wurde, weil ihn die Classical Group aus guten Gründen ablehnte. Was Ihre Erwähnung Dr. Fleischmann’s betrifft, so konnten Sie sich in Amsterdam [5] vielleicht ein besseres Bild machen. An seiner intriganten Haltung hat sich praktisch nichts geändert und unsere Beziehung zu ihm ist weiter gespannt und durch Misstrauen gekennzeichnet. Dass er hier allen unerwartet eine Ärztin, die in Deutschland studiert hat, knapp nach Erhalt ihrer License geheiratet hat, werden Sie vielleicht gehört haben; eine ziemlich farblose und uninteressante Person, mit der niemand hier eigentlichen Kontakt hat. Das Motiv ist nahe liegend und nur eine der vielen Bestätigungen seiner Charakteranlage. Ich glaube übrigens, dass sie ihn nach Amsterdam begleitete. Ihren Vortrag hat er, bezeichnenderweise, nicht angehört und konnte keine Auskunft über ihn geben.

Auch Karen Horney, auf die Sie Ticho [6]  wohl in Unkenntnis der Sachlage hingewiesen hat, ist längst nicht mehr der Weg, „*Psychoanalytic* Study of the Child“ zu betreiben. Sie ist von dem, was wir unter Psychoanalyse verstehen, vollständig abgekommen und vertritt ihre eigene „Schule“, die eine recht unklare und ungeklärte Emulsion von Adler, Sullivan, Freud und ihren eigenen oberflächlichen Ideen ist. [7] Ihr und ihrer Gruppe wurde demgemäß die Zugehörigkeit zu der „International“ sowohl, als auch zu der „American Psychoanalytic Society“ aberkannt. Bitte sind Sie in der Wahl der Autoren, die Sie benützen, so vorsichtig als möglich, besonders da Sie sich als Lehrer für Psychoanalyse betätigen, aber auch für die Erweiterung Ihrer eigenen Kenntnisse. Sie kennen die Verhältnisse hier nicht und es geht vieles unter dem Namen der Psychoanalyse, was mit ihr in Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. So bedauerlich es ist, Sie müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass Sie in Wien heute zu isoliert sind, um in Ihrem Urteil in vielem, was vor sich geht, sicher sein zu können. Es ist notwendig, dass die Wiener Gruppe anerkannt wird. Dazu genügt nicht die Formelle Anerkennung durch die „International Psychoanalytic Association“, Wien wird so lange isoliert bleiben, als die Anerkennung der Society und des Lehrinstituts nicht durch die weitaus größte und ausschlaggebende Gruppenvertretung, durch die „American Analytic Association“, erfolgt ist. Dazu ist es aber weiterhin unerlässlich, dass die Gruppe seriöse und klassische Arbeit leistet; was darunter zu verstehen ist, habe ich in meinem genug beachteten Artikel über „Psychic Determinism and Preservation of Sublimation in Classical Psychoanalytic Procedure“ sehr genau und keineswegs in einem engen und einschränkenden Sinn auseinandergesetzt. Die Jugendlichen-Fürsorge genügt nicht. Sie müssen bei den strengen Grundsätzen der American Psa. Assiociation betreffend Ausbildung und die Vorbedingungen zur Anerkennung als Training-Analyst dem Umstand Rechnung tragen, dass man zu den Wiener Analytikern nur ein beschränktes Vertrauen hat, weil keine Gewähr besteht, dass sie die grundsätzlichen Vorbedingungen der Ausbildung, die vorgeschriebenen Dreijahres-Kurse und wenigstens 200 Kontrollstunden bei dazu befugten Training-Analytikern, neben einer wirklich gründlichen eigenen Analyse, für die man erfahrungsgemäß wenigstens 400 Stunden rechnet, erfüllt haben. Das schafft natürlich eine besondere Schwierigkeit in Ihrer Lage und diese könnte nur durch den Nachweis der Befähigung der Mitglieder der Wiener Gruppe, besonders durch gute und wirklich psychoanalytische Publikationen und durch die gelegentliche Kontrolle durch einen anerkannten Traininganalytiker von auswärts, gebessert werden. Einen anderen Weg kann ich mir nicht gut denken. Ich darf Ihnen aber auch nicht verschweigen, dass ich eine gewisse Feindseligkeit gegen Wien feststellen konnte, weniger bei uns [8]  als in London. Als Hedy Schwarz [9] uns hier besuchte, hat Sie sich nicht sehr schmeichelhaft und – in meinen Augen – taktlos in London ausgesprochen. Ich habe ihr das offen ausgesetzt, aber der Eindruck seiner solchen Äußerung bleibt natürlich bestehen und wirkt sich für Wien nicht im günstigen Sinn aus. Glücklicherweise hat sie selbst hier einen geteilten Eindruck hinterlassen, denn man ist hier gegen oberflächliche Leistungen besonders kritisch, wenn sie zu selbstbewusst vorgebracht werden. Warum ich Ihnen das mitteile, liegt auf der Hand: Es hat keinen Sinn, die reale Situation dadurch zu verfälschen, dass man sie nur von dem Aspekt Ihrer lokalen Erfolge aus beurteilt. Die sind für Sie und Ihre Sache wichtig, ich kann Sie verstehen, aber für die meisten anderen ist die Beurteilung der Gesamtsituation von wesentlicherer Bedeutung. Und da sind nun einmal Verhältnisse entstanden, denen Sie ungeschminkt ins Auge sehen sollen, denn nur dann werden Sie und Ihre Gruppe imstande sein, ihnen wirksam entgegenzutreten. Nehmen Sie einmal die Mitglieder Ihrer Gruppe ganz objektiv vor; Dr. Winterstein ist der einzige, der die wissenschaftliche Erfahrung und praktische Ausbildung besitzt, die die notwendige Voraussetzung dafür ist, andere damit vertraut zu machen. Sie schreiben z. B., wissenschaftliche Sitzungen gab es fast nicht. Aber gerade diese, der Austausch der Erfahrungen, die Diskussion der praktischen und theoretischen Probleme, der Fehler, die man begangen hat, und der Fortschritte, die man erreicht hat, sind die Basis, auf der Allein man sein Wissen wirklich erweitern kann, dann die Erfahrungen, die man allein macht, werden erst durch ihre kritische Betrachtung objektiviert, selbst kann man sie nicht werten, ohne zwangsläufig in Fehler zu verfallen. Sie müssen mich richtig verstehen; ich will Sie nicht etwa entmutigen, im Gegenteil, es liegt mir unendlich viel daran, Ihnen behilflich zu sein, soweit das von hier aus möglich ist, aber es geht nicht an, Illusionen bestehen zu lassen, wenn ich Sie in eine praktische Bahn leiten will. Und glauben Sie mir, das liegt mir mehr am Herzen als Sie es ahnen können. Nun die anderen Mitglieder; Dr. Solms ist neben Ihnen beiden zweifellos der weitaus Begabteste. Aber er ist exaltiert, autistisch, nicht genug durchanalysiert, und demgemäß wird er nicht ohne weiteres willig sein, sich lenken zu lassen. Dr. Genner ist willig und fügsam, aber, was ihre Fähigkeiten betrifft, ein verlorener Posten. Die beiden Aufreiter sind zu autokratisch und zu überzeugt von ihrem Wissen und Können, als dass je etwas aus ihnen werden würde. Der einzige Dr. Ticho und, wie ich glaube, Frau Dr. Höllwarth [10] sind ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft. Aber dazu wäre es notwendig, die Vereinigung selbst zu reorganisieren. Es müssten wieder regelmäßige Sitzungen, regelmäßiger Austausch von Erfahrungen, regelmäßige Kontrollstunden, Vorträge und wissenschaftliche Diskussionen eingeführt werden und stattfinden, die in dem „International Journal“ berichtet werden müssen und mit denen sich die Vereinigung ausweisen kann. Nur auf diesem Weg wird es für Wien wieder möglich werden, Anerkennung zu erlangen.

Sie schreiben, dass das, was ich über die Arbeitsverhältnisse in Topeka geschrieben habe, Sie Ihr „Versäumnis“ milder beurteilen lässt. Ich glaube nicht, dass Sie recht haben, und ich bedauere es nach wie vor, dass Sie nicht wenigstens für einige Zeit hierher gekommen sind. Was ich schrieb, hat mit persönlichen Momenten zu tun und ist in diesem Sinne relativ zu nehmen. Es betrifft vor allem nicht die Arbeit an sich, die man hier zu leisten hast, denn ich glaube kaum je wieder einen Platz ausfindig machen zu können, der nur annähernd die Möglichkeiten bietet, die hier gegeben sind, seine Kenntnisse und Erfahrungen zu erweitern. Wenn es sich nur darum handelte, würde ich nicht daran denken, diese einzigartige Gelegenheit aufzugeben. Ich bin den 3 Jahren, die ich hier bin, ehrlich dankbar, denn sie haben meinen Horizont so erweitert, wie es in Europa nicht in 30 Jahren möglich gewesen wäre. Um diese wichtigen Erfahrungen, die mir ebenso neu waren, als ich herkam, und die sich nicht nur auf Technik, Anwendung und Anwendungsgebiete, Unterricht, Auslegung und Forschung beziehen, sondern auch auf die so unendlich wichtige Politik der psychoanalytischen Bewegung, auf die spezifische Indikation und Prognose und die Beurteilung der Fähigkeit für Psychoanalyse, reicher wären Sie nach Wien zurückgekehrt und hätten mit ganz anderem autoritativem Rückhalt Ihre Sendung als anerkannter Führer der Gruppe in Wien übernehmen können. Das ist immer noch der vorgezeichnete Weg, den Wien braucht, um wieder eine Basis für die Psychoanalytische Wissenschaft, Theorie und Forschung zu werden. Hier wird die Dynamic Psychiatry immer mehr Fach der Universitäten, aber gelehrt wird Psychoanalyse nur im Kontakt mit den Instituten und von den von diesen entsendeten Lehranalytikern. Es genügt nicht, dass Prof. Hoff sich offen zur Analyse bekennt und dass er seine Ärzte und Sozialarbeiter mit ihr bekannt macht. Er selbst ist nicht analysiert und ausgebildet, wir wissen zur Genüge, dass das theoretische Verständnis nur einen „ideologischen“ Wert besitzt und nicht hinreicht, um Analyse zu beherrschen und wirklich zu verstehen, und seinen Assistenten und Schüler, wie ich schon von Dr. Solms sagte, fehlt noch zu viel zu den Grundlagen, um selbst ein einwandfreier Therapeut, geschweige denn Lehrer und Forscher sein zu können. „Wenn“ in der Welt der Friede bestehen bleibt, gerade dann erwüchse Ihnen nicht eine „bescheidene“ Aufgabe, wie Sie es ausdrücken, in wie mir scheint doppelter Verkennung Ihrer Person ind der Aufgabe, sondern die höchst wesentliche Verpflichtung, der Geburtsstätte der Psychoanalyse wieder zu der Stellung und Geltung zu verhelfen, die ihr historisch und ihrer Kapazität nach, wenn diese wiederherstellbar ist, gebührt. Gefühlsmäßige Bindungen sind solchen Fragenkomplexen gegenüber gewiss nicht maßgebend, darüber müssten wir uns gerade als Analytiker im klaren sein. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich seinerzeit nicht energischer darauf bestanden habe, Sie zu veranlassen, wenigstens vorübergehend, für 1 oder 2 Jahre, studienhalber hierher zu kommen, wie Sie es ja auch erwogen haben. Wie viel leichter hätten Sie es heute auch mit Ihrem Jugendlichen-Hilfsprogramm und Sie und Ihre Frau hätten die Möglichkeit gehabt (viel mehr und nachhaltiger als Ihre Frau in England), sich auf eine für jeden nachweisliche und ersichtliche Beendigung Ihrer eigenen Ausbildung zu berufen, was Ihnen der Fachorganisation und offiziellen Stellen gegenüber in der ganzen Welt einen anderen Rückhalt gegeben hätte. Die Geltung der Wiener Gruppe wäre mit 2, rsp. 3 Lehranalytikern nicht mehr in Frage gestellt worden und nötige Unterstützung Ihrer Bestrebungen hätte sich von selbst ergeben, ohne dass die negative und kritizistische Haltung eines ihrer früheren Mitglieder hier den Erfolg immer wieder verhindert hätte. [11] Sie werden damit auch die Widerstände besser verstehen, mit denen ich hier in dieser Sache zu kämpfen habe.

Wie weit Sie diese meine wirklich nur im besten Sinn gemeinte Stellungnahme zu würdigen wissen und was da im Augenblick noch zu machen ist, kann ich schwer beurteilen. Wir leben natürlich in verschiedenen Welten, aber es ist kein Zweifel, dass sie heute mehr zueinander gehören und zueinander streben als je, wenn ich Ihren optimistischen Aspekten (allerdings ist seither wieder ein halbes Jahr vergangen) auch nicht zustimmen kann und wenn ich auch weiß, wie schwierig es ist, sich über den Ozean zu verständigen. Ich muss Sie einfach bitten, mir zu glauben, dass ich die Verhältnisse objektiver beurteilen kann, als es für Sie in Ihrer Umgebung und ihren lokalen Einflüssen ausgesetzt praktisch auch nur möglich ist, trotz Amsterdam; denn ein Kongress ist im Grunde eine gesellschaftliche Veranstaltung und was Sie dort sehen und erfahren, ist nur das konventionelle Bild (im Englischen heißt ein Kongress bezeichnenderweise „Convention“); über die Differenzen erfahren Sie nichts oder so wenig, dass sie Ihnen bedeutungslos erscheinen müssen. In Wirklichkeit aber sind sie weit größer als Sie in der Lage sein, sich vorstellen zu können. Ich kann Ihnen somit nur nochmals – als Ihr Freund – raten, mir zu glauben und in Ihren Entschlüssen meine Feststellungen ins Kalkül zu ziehen.

Ich bin kein Illusionist und ich weiß wohl, dass für solche Pläne die Realität im Augenblick wenig entgegenkommend sein dürfte. Das heißt also, dass ich gar nicht erwarte, dass S8ie mir „aufs Wort“ folgen. Aber da ist etwas, was seine peinliche Wirkung auf mich nicht verfehlt und einen eigentlich hoffnungslos machen müsste, nämlich Ihre Bemerkung über die Latenz der alten Spannungen in Ihrer Vereinigung, die „nach heftigen Kämpfen“ zwar „einen passablen Ausgleich“, einen „demokratischen“ modus vivendi gefunden haben, aber im Grunde weiter bestehen und der Tätigkeit und Arbeitsfähigkeit der Organisation natürlich nicht förderlich sind. Nun ist die Vereinigung augenblicklich das einzige, worauf sich dein Progress der psychoanalytischen Arbeit und Schulung stützen kann; und dieser Apparat versagt augenscheinlich (Sie hätten mir sonst nicht mitgeteilt: „Wissenschaftliche Sitzungen gab es fast gar nicht“). Lässt sich dagegen den gar nichts unternehmen? Sie wollen Psychoanalytiker sein, aber der Geist, der sie beherrscht, lässt offenbar nicht drauf schließen, sonst müssten sie alle wissen, dass solche persönliche und kleinliche Auseinandersetzungen, wie sie leider allzu menschlich sind und überall, auch in der aufgeklärtesten Gesellschaft vorkommen, den Geist der Arbeit selbst nicht gefährden dürfen, wenn diese Ihnen wirklich wichtig ist. Aber man muss leider den Schluss daraus ziehen, dass sie den meisten von ihnen nicht wichtig genug ist oder dass sie eben nicht weit genug sind, ihren Geist zu begreifen. Das etwa ist mein Gesamteindruck, wie ich ihn oben schon aufzuzeigen suchte, und wenn dieser zweifellos nicht unbegründete Verdacht sich bestätigt, sind die notwendigen Schlussfolgerungen daraus in meinen Augen tragisch. Bleuler hat nicht ohne Grund den „autistisch undisziplinierten Charakter“ gekennzeichnet und ich brauche Sie gewiss nicht darüber zu belehren, was ein solches Verhalten für einen Analytiker bedeutet. Nicht mehr und nicht weniger jedenfalls, als dass man ihm die Fähigkeit absprechen muss, es zu sein, zumindest er nicht selbst durch seine eigene Analyse gelernt hat, eine objektive Haltung zu bewahren, d. h. zu verstehen und nicht zu kritisieren, und seine Beziehungen seinem Verständnis anzupassen. Nur dann nämlich wird er nicht durch seine persönlichen Empfindlichkeiten oder seinen „Willen zur Macht“ die allgemeine Situation verkennen oder in Gefahr bringen. Sie haben meiner Schilderung entnommen, dass wir auch hier unerfreuliche persönliche Erfahrungen machen. Aber ich muss zur Ehrenrettung aller, die hier beteiligt sind, betonen, dass solche Differenzen immer persönlich geblieben sind und niemals auf unsere Arbeit übergegriffen haben. Man spricht sich offen aus, bleibt im Dienst sachlich und verhält sich privat, wie es einem richtig erscheint. Dr. Fleischmann’s Verhalten hatte die logische Folge, dass er und seine Frau privat isoliert sind und sie sich damit als einer Tatsache abzufinden haben. Auf unsere Zusammenarbeit hat das niemals auch nur den geringsten Einfluss gehabt. Dienstlich gibt es keine „privaten“ Auseinandersetzungen und es denkt niemand daran, aus persönlichen Angelegenheiten irgendwelche dienstliche Folgerungen zu ziehen, weil jedem von uns die Arbeit als solche wichtiger erscheint. Damit wird weder die persönliche Freiheit noch das persönliche Interesse verletzt, denn jeder kann, wenn es ihm günstiger erscheint, seinen Platz aufgeben und seine Arbeit, unter Wahrung der Verantwortlichkeit, anderwärts fortsetzen. Das ist die Lage, in der ich mich augenblicklich befinde; aber wenn auch die Foundation von meiner Absicht, zu kündigen, nicht begeistert ist, so legt sie mir keine Steine in den Weg, weil ich vorgesorgt habe, dass sie nicht geschädigt wird. Ich sehe keinen rechten Grund, warum man sich in Wien nicht ähnlich verhalten und anpassen kann. Sie haben mir über die Machenschaften der beiden Aufreiter geschrieben und ich habe mich gewundert, warum man sie angehen lässt und ihnen ein Recht einräumt, das sie sich nie erworben haben. Wir kommt Dr. Aufreiter, noch dazu unter diesen Voraussetzungen, in den Lehrausschuss? Sie müssen verstehen, dass man gegen diese Art Betrieb immer Einwendungen haben wird und dass es daher dringend nötig erscheint, der Organisation auf die Beine zu helfen. Die Kardinalfrage ist, wie Ihnen dabei behilflich sein, und dringend wichtig ist, dass Sie sich nicht selbst dadurch isolieren, dass Sie unter sich Ämter verteilen, für die Sie sich nicht oder nicht genügend ausweisen können. Das ist auch einer der wesentlichsten Gründe, wenn auch nicht der einzige, warum es so schwierig ist, die Unterstützung Ihrer Bestrebungen durchzusetzen. Man erwidert mir immer wieder, die Wiener Gruppe existiert nur auf dem Papier, weil nach den Stauten ein Institut nur dann errichtet werden kann und arbeitsfähig ist, wenn wenigstens 4 anerkannte, den Vorschriften gemäß ausgebildete und ernannte Lehranalytiker vorhanden sind. Zum Lehranalytiker kann aber vorschriftsmäßig nur ernannt werden, wer nach der vorgeschriebenen vollendeten Ausbildung – abgeschlossene und erfolgreiche Lehranalyse, ein Minimum von 200 Kontrollstunden bei dafür befugten Lehranalytikern und an wenigstens 3 Fällen, und Approbation durch den befugten Lehrausschuss – wenigstens 5 Jahre praktische  und wissenschaftliche Tätigkeit als anerkannter Analytiker nachweisen kann. In den By-Laws der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung heißt es ferner, dass niemand sich selbst zum Lehranalytiker vorschlagen kann, sondern dass nur das Institut bei eigener Verantwortung einen solchen Vorschlag machen darf, sämtliche Institute und Gruppen der Internationalen Vereinigung davon Kenntnis haben müssen und der Exekutiv-Ausschuss dazu seine Einwilligung geben muss. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, so kann es geschehen, dass jemand das Recht, zu analysieren oder zu lehren, abgesprochen wird – beides habe ich hier schon erlebt – und, was die Sache noch verantwortungsvoller macht, dass Analysen und Krontollen, die sie durchgeführt haben, als ungültig erklärt werden, ein Risiko, das schon der materiellen Schädigung wegen und des Eindrucks, den es auf die Betroffenen machen muss, vermieden werden sollte.

Ich glaube, es werden Ihnen erst jetzt die Motive klar sein, die Anlass zu den prinzipiellen Einwendungen gaben, die man gegen eine Unterstützung der Wiener Gruppe erhob. Und das ist ein wesentlicher Grund, warum ich mich der undankbaren Aufgabe unterziehe, Ihnen die Situation so offen als möglich darzustellen. Ich muss betonen, dass sich das in keiner Weise gegen Sie persönlich richtet, die ich nicht nur als meine Freunde schätze. Aber Sie sind nun einmal ein Teil, und zwar eine wesentlicher, der Wiener Gruppe und ich möchte nicht, dass Ihre offenbar ungenügende Kenntnis dieser Gegebenheiten Sie mit Ihrer Gruppe früher oder später in Ungelegenheiten bringt. Ich weiß natürlich und trete auch dafür ein, dass man Wien nicht so sehr aus historischen, sondern aus Gründen der besonderen und nicht durch die Gruppe verschuldeten Lage notwendigerweise eine Sonderstellung einräumen müsste, aber muss gestehen, dass meine Versuche in dieser Richtung bisher auf wenig Verständnis gestoßen sind. Das hat nicht nur mit dem Charakter und der Einstellung der Amerikaner zu tun, sondern mehr noch mit der prinzipiellen Überlegung, dass diese Satzungen in ihrer strengen Form und mit ihren hohen Anforderungen geschaffen wurden, um eine Verwässerung der Analyse zu verhüten, wie man es früher, solange man nachsichtiger war, und auch heute noch, trotz der exakten Ausbildungsbedingungen, wenigstens gelegentlich erlebt, da man immer noch zu sehr von den mehr oder weniger subjektiven Urteilen der lehrenden und kontrollierenden Analytiker abhängig bleibt, denen wir vertrauen müssen. Man kann also, wenn man dieses Vertrauen voraussetzt, niemand verübeln, wenn er es von den gleichen Forderungen abhängig macht, die man von ihm verlangt hat. Ich habe anfangs Dezember auf dem Midwinter-Meeting in New York als Bevollmächtigter of the Board on Professional Standards versucht, vor diesem als der zuständigen Stelle die Frage einer gesonderten Behandlung der Wiener Gruppe mit dem Ziel ihrer Anerkennung aufzuwerfen. Ich bin dabei auf so harten Widerstand gestoßen, dass ich es aufgeben musste. Bei nachträglicher Erörterung dieses Problems untereinander riet man mir, die Wiener Gruppe darauf aufmerksam zu machen, dass man von ihr zuerst den Beweis erwarte, dass sie sich an die gegebenen Bestimmungen der Ausbildung und der Approbation halte und sich damit ausweise, dass sie an den Problemen der Bewegung praktisch und wissenschaftlich beteiligt ist. Es existieren z. B. keine regelmäßigen Veröffentlichungen über die wissenschaftlichen und Geschäftssitzungen und über Diskussionen der Wiener Vereinigung in einer dazu bestimmten Fachzeitschrift (z. B. „The International Journal of Pscho-Analysis“, London), eine Verpflichtung, die für alle Gruppen der International Association besteht und immer bestanden hat. Was das heißt, ist klar: Sie müssen erst den eigenen Stall kehren. Es ist, verzeihen Sie mir, eine naive Auffassung, seine eigenen Wege zu gehen oder sich zu isolieren, wenn man andererseits auf andere angewiesen ist. Und es ist eine selbstverständliche Forderung an eine Fachgruppe die eine wissenschaftliche und eine Lehraufgabe vertreten soll, dass sie mit den Fachgruppen gleichen Zieles zusammenarbeitet und sich der Gesamtorganisation unterstellt, nicht nur nominell, sondern durch statutengemäße Mitarbeit. Es ist sonst unausweichlich, dass sie den Zusammenhang mit der Organisation und den Überblick über sachliche, methodische und wissenschaftliche Fortschritte und Veränderungen von Anschauungen und Handhabungen, wie sie sich in der Entwicklung jedes Faches ergeben, verliert. Die Kenntnis der Literatur etwa genügt nicht, um eine Gruppe bei so delikatem Material auf dem Laufenden zu halten, sie muss sich selbst am Research und an dem lebendigen Ablauf dieser Entwicklung und Vorwärtsbewegung beteiligen. Sonst bleibt sie zurück und produziert Stückwerk, das sie immer mehr von der Gesamtbewegung entfernen muss und schließlich für sie wertlos macht.

Ich habe den Tätigkeitsbericht der August-Aichhorn-Gesellschaft und der Beratungsstelle für Mittelschüler in New York, so gut es ging, verdolmetscht und diese Darstellung hat viel Anklang gefunden. Es wurden aber auch Fragen sehr prinzipieller Natur, vom Standpunkt eines psychoanalytischen Kongresses gesehen, laut. Sie bezogen sich insbesondere darauf, dass aus den berichten nicht hervorgeht, in welchem Zusammenhang Ihre Child-Guidance-Clinic eigentlich mit der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung steht. Es wurde vermerkt, dass daraus nur für eine Minderzahl der Mitarbeiter hervorgeht, dass sie Mitglieder der Vereinigung sind, ob die anderen überhaupt psychoanalytisch geschult sind, ist nicht ersichtlich. Es ist wieder dasselbe Problem, dass für die Psychoanalytic Association nur eine wirklich psychoanalytisch tätige Gruppe, die mit ausgebildeten Kräften arbeitet und Kräfte ausbildet, von Interesse ist. Ich konnte darüber keine exakte Auskunft geben und habe gesagt, dass ich bei Ihnen anfragen werde. Man hat sich dann nach Ihrem und dem Ausbildungs-Curriculum der anderen Mitgliedr der Wiener Vereinigung erkundigt und ich würde Ihnen sehr empfehlen, vom General Secretariat of the International Psychoanalytic Association für jedes Ihrer Mitglieder je 2 Formulare „Application for Membership“ zu erbitten, (mit Ausnahme Dr. Winterstein), sie sorgfältig auszufüllen und je 1 Exemplar an das General Secretariat zurück und eines an ich zu schicken (für den Board on Professional Standards), damit endlich die Frage der Anerkennung und Unterstützung der Wiener Gruppe geklärt werden kann. Ferner muss ich Sie bitten, der Übersetzung des Tätigkeitsberichtes der August Aichhorn Gesellschaft und der Child Guidance Clinic eine Erklärung beizufügen, die die psychoanalytisch eingestellte Arbeit nachweist (unter der Kontrolle der Vereinigung?) und Auskunft über die Einstellung und Vorbildung der Mitarbeiter gibt, die der Vereinigung nicht oder noch nicht angehören. Alle diese Fragen, ihnen voran die des Tätigkeitsnachweises und des Nachweises der genügenden, d. h. der vollständigen Ausbildung, müssen geklärt werden, wenn die Wiener Vereinigung wieder in die „Gesellschaft der Societies“ aufgenommen und in ihr eine Rolle spielen will. Erweist sich die Ausbildung des einen oder anderen der Mitglieder als ungenügend, so müsste dem auf irgendeine Weise abgeholfen werden; und will sich ein Mitglied dem nicht fügen, so bliebe nichts anderes übrig, als es auszuschließen. Niemand in der American Association würde einen anderen Weg gutheißen oder auch nur begreifen, da sich jedes ihrer Mitglieder diesen Bedingungen voraussetzungslos unterworfen hat. Sie müssen auch wissen, dass der Tätigkeitsbericht der Aichhorn-Gesellschaft und die wissenschaftliche und Arbeitsleistung jedes einzelnen unter Ihnen nicht als Beweis für die Tätigkeit der Vereinigung gilt. Die Vereinigung muss wirkliche und regelmäßige Arbeit machen und diese Arbeit muss legal und verbucht sein. Hier gilt zu allgemein der grundastz, dass, wer sich nicht am wissenschaftlichen leben aktiv beteiligt, den Zusammenhang mit ihm verlieren muss; darum gewinnt die Kontrolle der Arbeitsleistung hier eine so wesentliche Bedeutung. Nirgends gilt der Grundsatz mehr, dass „quod non est in actis, non est in mundo“.

Sehen Sie, das ist durchaus typisch für das Leben hier: Ich habe diesen Brief an Sie am 28. Dezember begonnen und komme erst heute, am 15. Jänner, wieder dazu, ihn fortzusetzen. Der Konsum an Arbeit ist manchmal so beträchtlich, dass jedes private Leben ausgeschaltet ist, wenigstens eine zeitlang. Ich habe durchgeflogen, was ich damals geschrieben habe, und den starken Drang verspürt, den Brief zu vernichten. Aber dann hat mir Überlegung gesagt, dass ich damit, dass ich Ihnen Tatsachen verschweige, die eminent wichtig werden können, nur um Sie nicht zu beunruhigen, nichts Gutes für Sie täte. Ich glaube wirklich, dass Ihnen ein Maßstab für das fehlt, was man hier voraussetzt. Amerika ist nun einmal der Boden geworden, auf dem sich die Entwicklung der Psychoanalyse in einem ungeahnten Ausmaß vollzieht, man kann nicht mehr von ihrer Anerkennung sprechen, sie ist selbstverständlich geworden und an der Mehrzahl der Universitäten als Studienfach zugelassen, als „postgraduate training“ für die Ausbildung von Psychiatern, klinischen Psychologen, Soziologen und fallweise auch für andere Fachkategorien. Ihre Technik hat mit der enormen Erweiterung ihrer Anwendungsgebiete und der neuen Erfahrungen, z. B. in der Behandlung der Schizophrenie, Veränderungen und eine solche Vielfältigkeit erfahren, dass für ihre Beherrschung und Indikation in der Psychiatrie allein ein eigenes sorgfältiges Studium und viel Erfahrung nötig geworden sind. In Wien habe ich davon nur wenig gewusst und ich muss annehmen, dass darüber die Wiener Vereinigung auch heute noch sehr lückenhaft informiert ist. Denn ohne sich von diesen Umwälzungen selbst überzeugt zu haben, ist es äußerst schwer und nur unvollkommen möglich, sich ein Bild darüber zu machen; und zusammenhängende Darstellungen gibt es darüber noch nicht. Es ist nur natürlich, dass bei diesen immer komplizierter werdenden Voraussetzungen die verantwortliche zentrale Vereinigung an den strengen Ausbildungsbedingungen festhält und eher Verschärfungen als Ausnahmen zulässt, da bei der Kompliziertheit des Gegenstandes sonst ein Chaos zu gewärtigen wäre. Darin sind die akademischen Stellen in völliger Überstimmung mit uns. Gleichzeitig wird der Druck auf die Internationale Vereinigung immer stärker, diesen Ausbildungsgrundsätzen allgemeine Geltung zu verschaffen, und es besteht kein Zweifel, dass sie sich der weitaus größten und leistungsfähigsten Gruppe, der amerikanischen, fügen wird. Die Folge wird die Diskreditierung aller sein, die die Mitarbeit verweigern. Ich kann nicht behaupten, dass ich in allem mit der Politik der American Association übereinstimme. Manches in ihrer Politik fordert nicht nur meine Kritik heraus, so ihre Haltung gegen nichtärztliche Analytiker, denen sie die Mitgliedschaft und das Recht der praktischen Ausübung der Analyse als Therapie verweigert, mit der einen Ausnahme der Kinder und Verwahrlosten. Diese Dinge sind wie vieles in unseren theoretischen und praktischen Ausblicken noch ungeklärt und man bemüht sich immer mehr, viele dieser Fragen durch „psychologic research“ und statistische Forschungen auf seriöser Basis möglichst objektiv zu entscheiden. Aber wie immer in solchen Fällen lassen sich unter so vielen Beteiligten Vorurteile einzelner und von Gruppen nicht ausschalten und kleinliche Konkurrenzprobleme werden zu Ideologien gemacht, was besonders die Entwicklung der Laienfrage noch immer nicht sehr hoffnungsvoll gestaltet. Das alles sei Ihnen nicht nur gesagt, weil es Sie interessieren muss, sondern weil es mir wirklich am Herzen liegt, Ihnen alle künftigen Schwierigkeiten so gut als möglich zu ersparen. Sie werden mich und die Gründe, warum ich mich dieser Aufgabe so ausführlich unterziehe, so besser verstehen. Ich habe mit Bedauern feststellen müsse, dass Wien in Vergessenheit gerät und selbst die, die einmal dort waren, kein Interesse mehr für die dortige Bewegung zeigen. Sie werden sich durch Leistungen wieder bemerkbar machen müssen und die sind nur durch eine gemeinsame und einige Arbeit zu erzielen. Wer sich nicht dem Ganzen unterordnen will und die Analyse nur für seine privaten Zwecke ausnützt, muss rücksichtslos ausgeschaltet werden, wie das hier geschieht. Wie weit Sie meinen Ratschlägen sonst folgen und wie Sie sie organisieren wollen, hängt natürlich von Ihnen ab. Ich kann nicht mehr tun als sie Ihnen nahe zu legen und zu begründen.

Eben während ich dies niederschreibe, wird mir Ihre schöne Neujahrskarte in mein Office gebracht. Ich danke Ihnen sehr und meine Frau und ich erwidern Ihre Wünsche aus das herzlichste; und ich bitte Sie, sie auch an alle Kollegen weiterzugeben, insbesondere an Frau Dr. Fried und Dr. Ticho, die mir geschrieben haben. Bitte sagen Sie ihnen, dass es nicht Schreibfaulheit ist, dass ich noch nicht geantwortet habe, ich kann es erst tun, bis ich wider Zeit finde. Ich möchte damit auch das nicht sehr erfreulich, aber gut gemeinte Kapitel abschließen und nur noch hinzufügen, dass ich abwarten will, wie Sie darauf reagieren und was Sie an Vorschlägen und Absichten bereit haben, dem gegenwärtigen Zustand – sagen wir, der Isoliertheit – abzuhelfen. Ihre Bücherwünsche will ich demnächst erfüllen, muss Ihnen allerdings sagen, dass über „Technik“ sehr wenig Brauchbares zusammengefasst ist. Dr. Kaiser und ich sind gegenwärtig bemüht, eine Übersicht über dieses komplizierte Gebiet zu entwerfen, aus der ein brauchbares und systematisches Buch über diesen Gegenstand werden soll. Aber ds wird noch seine Zeit in Anspruch nehmen.

Bevor ich Ihre Frage über meine persönlichen Absichten beantworte, möchte ich Sie um etwas bitten, das ich nur Ihnen überantworten kann, weil Sie dafür die richtige Stelle sind. Ein guter Bekannter von mir, Mr. James M. Cravens, Psychologiestudent im letzten Jahr, sehr begabt, vielseitig interessiert und sympathisch, hat um einen Schloarship für die Wiener Universität, in Psychologie, angesucht, um sich in diesem Fach und wo möglich auch in klinischer Psychologie zu vervollkommnen und auswärtige Aspekte kennen zu lernen. Beiliegend ist eine Photokopie seines „registry“ (Studienganges und Klassifikation) und ein Original-Brief des „Institute for International Education“, aus dem ersichtlich ist, dass er für einen „foreign scholarship“ in Frage gezogen ist. Obwohl seine Aussichten gut sind, wäre es wegen der großen Zahl von Bewerbern von Wichtigkeit für ihn, eine Bestätigung des Wiener Dekanats oder einer anderen maßgeblichen Stelle der Universität in Händen zu haben, dass er auf Grund des Nachweises seiner ausgezeichneten Studienerfolge (ersichtlich aus der Copy des „Permanent Record“ des Office of Registrar der Washburne Municipal University) und gegebenenfalls auf Grund meiner Empfehlung und Garantie für seine intellektuellen und moralischen Qualitäten, der Wiener Universität als Gaststudent willkommen wäre. Ich nehme an, dass es Ihnen durch Ihre Stellung oder Ihre Verbindungen leicht möglich sein wird, eine solche bestätigung zu erlangen und sie möglichst umgehend mir zuzusenden. Sie würden mich mit dieser besorgung zu besonderem Dank verpflichten.

Und nun noch kurz zu meinen persönlichen Angelegenheiten. Ich schrieb Ihnen seinerzeit von dem sehr günstigen Antrag, den mir das Psychiatric Department der State University of Minnesota machte, dass ich im vergangenen Juni in Minneapolis war und dass man mir 1 Jahr Bedenkzeit zubilligte. Meine Bedenken bezogen sich auf das Klima und die Lage, die beide diese sonst sehr schöne, aber zu nördliche Stadt nicht sehr einladend für einen dauernden Wohnsitz machten, und auf die Schwierigkeit, allein eine solche Lehraufgabe und das Starten einer Study Group zu übernehmen. Ich machte daher meinen Entschluss davon abhängig, ob ich Helfer finden würde. Da Minneapolis in das weitere Bereich des Chicago Institute fällt, setzte ich mich mit Dr. Alexander in Verbindung, der mir sehr zuredete, mir diese Gelegenheit, an den gegebenen Entwicklungsbedingungen der Analyse aktiv Anteil zu haben und sie an einer der größten Staatsuniversitäten des Landes einzuführen, nicht entgehen zu lassen. Er konnte mir aber keine Mitarbeiter versprechen und auch in New York hatte ich kein Glück damit, da es zu wenig befugte Traininganalytiker gibt und die, die verfügbar sind, an ihre Stellen gebunden sind. Inzwischen wurde ich von der Los Angeles Psychoanalytic Society eingeladen, an einer Diskussion über das Thema „Depression“ teilzunehmen. Das war im November und der unerwartete Erfolg war, dass mich die Society aufforderte, nach Los Angeles zu kommen und mich ihrer Gruppe anzuschließen. Sie müssen wissen, dass es selbst amerikanischen Psychiatern, die keine California License haben, schwer gemacht wird, sich dort niederzulassen, das das Land und die Stadt sich trotz außerordentlichen Bedarfes gegen eine zu starke Zuwanderung schützen muss, die wegen der besonders günstigen allgemeinen und klimatischen Bedingungen sehr verführerisch ist. Die Society ist daher sehr exklusiv und sucht sich ihre Mitglieder sorgfältig aus. Der Erfolg ist, dass ihr Niveau besonders hoch ist, was der wissenschaftlichen Arbeit und dem Ansehen der Mitglieder zugute kommt. Ich muss sagen, ich habe dort zum ersten Mal, seit ich hier bin, etwas von der Atmosphäre und dem Geist gefühlt, die in der Wiener Vereinigung zu Freud’s Zeiten herrschten. Der Einfluss Fenichels und Simmels ist dort noch nicht erloschen und ich glaube, dass ich es vor allem diesem Umstand zu verdanken habe, dass man mich dort haben möchte. Nach der Spaltung der Los Angeles Gruppe in eine klassische und neofreudianische (Sullivan) hat die erstere auch ein verständliches politisches Interesse daran, jemand „von der Quelle“ zum Mitglied und Lehrer zu haben. Diesem Umstand habe ich es, so glaube ich wenigstens, in erster Linie zu verdanken, dass man sich um mich bewirbt, obwohl ich weiß, dass kurz vor meinem besuch ein „bodenständiger“ Analytiker aus dem Osten mit gutem Namen, der sich in Los Angeles niederlassen wollte, unverrichteter Dinge zurückkehren musste, weil ihm die Aufnahme verweigert wurde. Deshalb und weil ich vergangenen Sommer eine ähnliche Erfahrung in Seattle machen musste, wo man mir die Leitung des Institutes angeboten hatte, beim Staat Washington aber, wo die Verhältnisse allerdings besonders schwierig liegen, trotz aller Bemühungen meine Autorisierung nicht zu erlangen war, achte ich gar nicht an eine solche Wendung in Los Angeles. Ich habe prinzipiell angenommen, aber erwarte noch die Durchführung von Sicherungen, die ich verlangt habe, obwohl sie nicht unbedingt nötig wären, aber ein Rückhalt für die Zukunft sind, da ich dort, wo ich jetzt hingehe, ein für alle Mal zu belieben wünsche. Gewandert sind wir genug und wir möchten endlich wider ein Heim haben, wo man sich zu Hause fühlen kann. Bis zum Feber muss die Sache entschieden sein, da ich an diesem tage meine Resignation einreichen muss, damit wir Ende Juli oder Anfang August übersiedeln können. Meine Bedingungen werden kaum auf Hindernisse stoßen.

Das ist meine gegenwärtige Lage. Minneapolis werde ich nicht entscheiden, bevor ich nicht hundertperzentige Sicherheit habe. Alle anderen Pläne habe ich ausgeschaltet, weil sie sich nicht als günstig genug erwiesen haben. Irgendwo hinzugehen, nur mit dem Ziel, zu verdienen, liegt mir nicht, und eine Stelle auf gut Glück zu erproben, habe ich nicht nötig, auch nicht, mich irgendwo niederzulassen, wo klimatische und sonstige Verhältnisse ein Risiko bedeuten könnten oder einen Aufenthalt auf Dauer in Frage stellen. Dem würde ich vorziehen, hier zu bleiben, wo ich eine schöne und erfolgreiche Arbeit und einen sicheren Verdienst habe, wo man mich braucht und es niemand einfallen würde, meine Existenz zu schmälern. Dass diesen Vorteilen aber auch Bedingungen anhaften, die schwer zu ertragen sind, wissen Sie. Wenn das Projekt Los Angeles sich durchführen lässt – und es sieht ganz danach aus – dann sind wir alle Sorgen dieser Art los. Man kann sich klimatisch kaum einen idealeren Platz denken, maritimes subtropisches, aber im Durchschnitt mildes Klima, im Sommer nicht zu heiß, einen Winter gibt es eigentlich nicht, nur von Ende November bis Ende Jänner etwa mehr oder weniger Regen bei lauen Temperatur, die fast nie dem Nullpunkt nahe kommt. Mitte November, als wir dort waren, war alles voll blühender Blumen, die Dattel- und Orangenernte war im Gang und erst zu Beginn der dritten Woche, als wir wegfuhren, hatten wir einen Regentag. In Kansas war um diese Zeit schon Winter. Es gibt kaum eine Vegetationsunterbrechung und die Umgebung ist ausgesucht schön. Man kann sein Weekend am Ozean, im Gebirge, in Wäldern und an Seen, und, wenn man will, auch in der Wüste (desert) verbringen, die hier ihre besonderen Reize hat und im Frühling einem blühenden Kakteen- und Palmengarten gleicht. Die Stadt hat eine riesenhafte Ausdehnung, aber die Wohnbedingungen in der Nähe des Ärzteviertels sind besonders schön. Für unser fach liegen die Arbeitsverhältnisse höchstens noch in New York ähnlich gut, die Stadt könnte die doppelte Zahl an Analytikern brauchen; es gibt niemand, der nicht voll zu tun hätte, ich muss noch mit der Lehrtätigkeit im Institut und der Ausbildung der Kandidaten (Traininganalysen und Kontrollstunden) rechnen. Aber gerade das ist mir wichtig und die Honorierung ist gut. Also hoffen wir, dass es zustande kommt, wir können uns nichts besseres wünschen.

Ich muss dringend Schluß machen, denn eben bekomme ich Memo, einen „report“ über einen Kandidaten auszuarbeiten und die „agenda“ für das nächste Education Committee Meeting mit dem Executive Secretary zu besprechen. Überdies habe ich heute abends mein „Case Group Seminar“. So ist das Leben hier; eine ununterbrochene Kette von Anforderungen und man weiß nie, was Unerwartetes einen morgen erwartet. Das gehört zu den Nachteilen der Organisation hier, dass man ihr jederzeit zur Verfügung stehen muss und es eine Rücksicht auf das private Leben nicht gibt. Man ist ein Sklave der Zeit, statt über sie verfügen zu können, und das ist auch einer der Gründe, die einen Wechsel so notwendig machen. Der neuen Stellung dürfen solche Bedingungen nicht anhaften, sonst wäre ihre Wahl sinnlos.

Dieses Schreiben ist sehr lang geworden. Ich hoffe, dass Sie ihm Ihr Verständnis nicht versagen werden. Sie wissen genau, dass nur die Sorge um Sie und die Zukunft der Wiener Psychoanalyse, falls ihr eine solche, ich meine, auf Grund der allgemeinen Verhältnisse, vergönnt sein wird, mich veranlasst hat, so zu schreiben, wie ich es getan habe, aber Sie sollen auch wissen, dass ich verantwortlich genug war, nicht zu übertreiben, und dass gewisse aktuelle Umstände es mir nötig erscheinen ließen, Ihnen die Augen zu öffnen, damit nicht Unrwartetes an Sie herantritt und Sie die Möglichkeit haben, Ihre Defence, vor allem aber Präventivmittel vorzubereiten.
Während ich diesen Brief abschließe – es ist inzwischen der 19. geworden – habe ich das entscheidende Schreiben von der Los Angeles Psychoanalytic Society bekommen. Alles ist wie vorgesehen geregelt und die Genugtuung ausgedrückt, mich im Sommer aufnehmen zu können. Damit sind die Würfel gefallen und ich konnte Ihnen auch diesen Erfolg noch mitteilen.

Ich hoffe, dass es Ihnen allen weiter gut geht, und sende Ihnen und den „großen“ Kindern die herzlichsten und freundschaftlichsten Grüße, denen sich meine Frau anschließt.

Ihr alter
Dr. Robert H. Jokl

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[1] Nachlass L. Bolterauer; bei Johanna Bolterauer.
[2] Eine Wiener Sozialarbeiterin. 
[3] Es dürfte sich hier um die „August Aichhorn Gesellschaft“ handeln.
[4] Friedrich (Frederick) J. Hacker (1914-1989), Gründer und Leiter der Hacker-Klinik für Psychiatrie und der Hacker Foundation in Beverly Hills. Professor für Psychiatrie, Gründer der S. Freud-Gesellschaft in Wien. Während der Sommer 1948 und 49 in Analyse bei Aichhorn in Wien.
[5] Anläßlich des IPV-Kongresses.

[6] Ernst Ticho (1915-1997) absolvierte das Absolutorium der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. 1938/39 war er in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald, bis es seinem Vater gelang, ihn aus dem Lager freizukaufen. Er emigrierte über die Schweiz nach Palästina, wo er bei Eitingon in Analyse war. In Jerusalem schloss er sein Jusstudium ab. 1946 kam Ticho nach Wien zurück, Aichhorn akzeptierte ihn als Ausbildungskandidaten der WPV. Er nahm ein Psychologiestudium in Graz auf (vgl. Posch 2000).
[7] Zusatz Bolterauer: „Völliges Missverständnis!“ 
[8] Zusatz Jokl: „mit Ausnahme Dr. Fleischmann“
[9] Hedy Schwarz-Braham: Hedy Schwarz stammt aus Wien, wo sie auch ihre psychoanalytische Ausbildung begonnen hatte. 1938 emigrierte sie nach London und wurde Mitglied der British Psychoanalytical Society. Am 24. 4. 1943 schrieb sie an Otto Fenichel: „Das erste und wichtigste große Ereignis, ich werde im Mai mit der Ausbildung fertig.“ Sie war Mitarbeiterin Anna Freuds an der Hampstead Clinic und hielt Ende der  1940er Jahren mehrere Vorträge in Wien; sie begleitete Anna Freud bei ihren Besuchen in Wien während der 1970er Jahre. 
[10] Gertrude Ticho (geb. Höllwarth) (1920-2004) studierte an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Sie schloss ihr Studium 1944 ab und wurde anschließend an eine Klinik nach Leipzig versetzt, von wo sie bei Kriegsende über Tirol nach Wien zurückkehrte. In Wien arbeitete sie an der Psychiatrischen Universitätsklinik unter Otto Kauders. Im Mai 1949 wurde sie als Ausbildungskandidatin in die WPV aufgenommen. Sie und ihr späterer Mann Ernst Ticho, waren die ersten, die als Kandidaten der wiedereröffneten WPV ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Die Lehranalytiker Gertrude Tichos waren Otto Fleischmann, nach dessen Abreise in die USA, Alfred Winterstein. Das Seminar leitete bis zum Sommersemester 1949 Otto Fleischmann (wöchentlich abwechselnd das theoretische und das technische Seminar) und dann Hans Aufreiter (das theoretische Seminar) und Tea Genner (das technische Seminar). Im Juni 1951 wurde sie zum Mitglied der WPV gewählt. Noch im selben Jahr wanderte sie aus Abenteuerlust, wie sie später erzählte, nach Sao Paulo, Brasilien, aus. Etwa 1954 entschloss sie sich nach Topeka, Kansas, zu übersiedeln, wo Ernst Ticho seit 1953 an der Menninger Clinic arbeitete. In den USA heirateten die beiden. Gertrud Ticho übernahm die Leitung des Instituts, Ernst Ticho leitete die Ambulanz. In den folgenden Jahren kam es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen den Tichos und Otto Kernberg, dem Leiter der Klinik. Gertrud und Ernst Ticho hielten den Kontakt mit der WPV aufrecht, sie kamen immer wieder zu Vorträgen nach Wien zurück und blieben Mitglieder der Vereinigung. 1973 übersiedelten sie nach Washington, DC, eröffneten psychoanalytische Praxen und wurden Mitglieder der Washington Psychoanalytic Society. Ihre berufliche Karriere setzte Gertrud Ticho als Clinical Professor an der George Washington University fort.
[11] Zusatz Bolterauer: „Fleischmann?“

Abschrift und Anmerkungen: Thomas Aichhorn, eingegangen am 12.5.2012

Redaktion: CD, 2012